Leben in einer anderen Welt?
Autismus und Eskapismus

Es wird oft gesagt, wir Autisten lebten in unserer eigenen Welt. Gibt man ‚in einer anderen Welt leben‘ auf Google ein, findet man sofort Artikel zu Autismus. Es kann dadurch der Eindruck entstehen, dass das nur auf Autisten zutrifft, darum wird das nun etwas differenzierter.

Die Realität in der wir leben, kann sehr eintönig sein, darum neigen wir Menschen dazu, sobald wir unsere Grundbedürfnisse gedeckt haben, uns Geschichten zu erzählen und zu phantasieren. Wir Menschen der Neuzeit lesen gern Romane, Erzählungen und Geschichten wie Homo Faber, Der kleine Prinz oder Faust, im Mittelalter erfreute man sich an der Artus-Saga oder Till Eulenspiegel, während in der Antike Heldenerzählungen über Herakles und Odysseus populär waren.

Das kann tröstend sein (so ist Odysseus über 20 Jahre von zu Hause weg, aber er kehrt zurück, vertreibt die Freier und verbringt mit seiner Familie ein glückliches Leben), belustigend (Eulenspiegel bietet Geld, um einen arroganten Mann zwanzig Schläge zu verpassen, hört aber nach neunzehn Schlägen auf, damit er ihm nichts zahlen muss, während der Verprügelte um den letzten Schlag bettelt), als Modell zum Nachdenken anregen (viele Aphorismen wie in Der kleine Prinz; das moralische Zerwürfnis des Walter Faber in Homo Faber) und vieles mehr.

Soweit, so gut, solange man sich an einen der drei bekannten Sprüche des Orakels von Delphi erinnert:
Μηδὲν ἄγαν (Mäden agan) = Nichts im Übermaß

Oder anders ausgedrückt: Die Grundaussage von Michael Ende’s ‚Die unendliche Geschichte‘ ist in meinen Augen: Wer keine Fantasie hat oder wer sich in seine Fantasie flüchtet (Eskapismus), verliert. Sieger sind Menschen, die in dieser Realität leben, aber durch ihre Fantasie Kreativität mitbringen, um das Leben in unserer Realität besser zu machen.

Hin und wieder flüchtet jeder Mensch gedanklich von dieser Realität, um wieder Kraft zu tanken. Gefährlich wird es erst, wenn sich ein suchtartiges Verhalten entwickelt und man sich selbst in dieser Realität vernachlässigt, um sein Leben in einer imaginären Welt zu fristen. Das trifft auf alle Menschen zu. Als Autist ist man aber in meinen Augen, um Erfahrung sprechen zu lassen, für Eskapismus anfälliger als ein neurotypischer Mensch.

Erstens, weil ein Autist sich die drei Hauptmerkmale Mimik, Gestik und Sprache erarbeiten muss wie neurotypische Menschen Vokabeln lernen. Also welche Teile des Gesichts beweglich sind, warum man Augenkontakt hält (um Aufrichtigkeit zu signalisieren).
Erst durch Maßnahmen wie zum Beispiel ein Soziales Kompetenztraining kann man sich als Autist irgendwann unter neurotypischen Menschen bewegen, ohne allzu sehr aufzufallen. Was aber immer noch belastend sein kann.

Zweitens, weil der Blickwinkel auf die Realität, den wir als Autisten haben, anders als der von neurotypischen Menschen. Vergleicht man das menschliche Gehirn mit einem Stromkreis, so ist bei einem neurotypischen Menschen der Kreis nach Kontakt A-B-C-D verdrahtet, bei einem Mensch mit Autismus aber anders, zum Beispiel A-C-D-B. Das ist nicht besser oder schlechter, es ist einfach nur anders. Aber es kann genau dieses ‚anders‘ sein, das einen ausgrenzt.

Drittens, soziale Beziehungen sind sehr zarte Pflänzchen, die gehegt und gepflegt werden wollen. Es ist sehr nuancenreich und Autisten können durch ihr Anderssein sehr leicht ausgegrenzt werden. Einerseits, weil wir Autisten ohne Training viele Zwischentöne nicht erkennen können, andererseits, weil die Angst vor Autismus heutzutage leider immer noch weit verbreitet ist.

Darum ist es so wichtig, Aufklärungsarbeit zu leisten, damit wir alle in dieser Realität ein schönes Leben leben können. Somit verbleibe ich mit folgendem Fazit:
Fantasie ist gut, solange man es sich im rechten Maß bewegt und Eskapismus ist ein Problem, für das Autisten zwar anfälliger sind, aber dem auch neurotypische Menschen erliegen können.

Autor:

Stephan Riedl aus Rodalben

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