Denkmodelle und ihre Wirkung auf Inklusion
Gegen den Mythos der Barmherzigkeit
Am 10. Juni 2021 um 18:00 Uhr hielt ich meinen Vortrag „Inklusion und Klassische Philologie: Ein Erfahrungsbericht“.
Im Nachgang fiel mir auf, was für eine Wirkung ein Denkmodell auf die Inklusion haben kann.
Für diejenigen, bei die meinem Vortrag nicht dabei waren: Dort stellte ich die unterschiedlichen Denkmodelle von Behinderung vor (in Klammern die Kurzzusammenfassung):
Das medizinische Modell (Behinderung ist Problem des Betroffenen)
Das soziale Modell (Behinderung ist Problem der Gesellschaft)
Das menschenrechtliche Modell (Verweigerung gleichberechtigter Teilhabe ist eine Menschenrechtsverletzung)
Das bio-psycho-soziale Modell (Behinderung ist nicht statisch, sondern dynamisch und entsteht in Wechselwirkung mit Gesellschaft, Umwelt und einem selbst)
Anschließend habe ich Texte und Beispiele aufgeführt, die gegen das Bild sprechen, in der Antike seien Menschen mit Behinderungen einfach getötet worden.
Der Text, der dieses falsche Bild erschafft, ist Plutarchs Lebensbeschreibung des Lykurg 16. Darin wird beschrieben, dass in Sparta der Ältestenrat die Neugeborenen untersuchte und schwächliche und missgestaltete Babys aussortierte und aussetzen ließ.
Plutarch liefert in seiner Agesilaos-Biographie das Gegenargument. Agesilaos II. war König von Sparta, hinkte allerdings aufgrund von unterschiedlich langen Beinen. Plutarch schildert Agesilaos‘ Leben sehr plastisch, aber er lässt es offen für Interpretation, ob Agesilaos von Geburt an hinkte oder erst später aufgrund von Kampfverletzungen. Da der König von Sparta eine Körperbehinderung hatte, spricht das sehr gegen diese Praxis, ‚behinderte‘ Kinder damals auszusetzen.
Das Wort ‚behindert‘ wurde hier extra in Anführungszeichen gesetzt, weil das griechische Wort πεπηρωμένον (pepäromenon) treffender mit ‚verstümmelt‘ oder ‚missgebildet‘ übersetzt wird. Und es sollte auch weiterhin genau so übersetzt werden und nicht mit ‚behindert‘. Denn die Menschen in der Antike hatten nicht die Möglichkeiten von heute. Hippokrates von Kos prägte zwar die Terminologie, die Ärzte heute noch verwenden, nichtsdestoweniger gab es damals keine Antibiotika, keine Impfstoffe und körperliche Verschiedenheiten waren viel ausgeprägter. Viele Menschen hatten Klumpfüße oder Rachitis, Knochenbrüche konnten oft nicht richtig verheilen und da viele Kriege geführt wurden, konnte man auch Menschen mit fehlenden Gliedmaßen begegnen. Körperliche Diversität war damals viel größer als heute. Zwar gab es auch Adonisse, die den Statuen ähnelten, die wir heute noch bestaunen können, aber diese Adonisse waren eher die Ausnahme als die Regel.
Gern werden auch Platon und Aristoteles zitiert, die sich beide in ihren Politik-Schriften dafür aussprechen, Kinder mit Missbildungen auszusetzen. Man möge bedenken, dass sie staatsphilosophische Empfehlungen gegeben haben. Wenn die beiden größten Philosophen des Abendlandes es empfohlen haben, lässt sich daraus schließen, dass es eben keine Praxis war,
Um die Übersetzung von πεπηρωμένον (pepäromenon) noch einmal aufzugreifen: Aristoteles hat ‚De Generatione Animalium‘ (Die Entstehung der Tiere) geschrieben und er geht darin auf die Zeugung ein. Dabei vergleicht er beim Menschen die Frau mit einem ‚missgestalteten Mann‘ und die Menstruation als unreinen Samen. Andere Übersetzungen machen aus der Frau auch einen ‚verkrüppelten Mann‘. Wie wäre ein Übersetzer heute zu bewerten, der in einer modernen Übersetzung aus der Frau einen ‚behinderten Mann‘ machen würde? Das wäre eine gute Frage für Feminist*innen.
Ich kann allen, die sich für das Thema Behinderung in der Antike interessieren, den Artikel von Fabian Dehmel ans Herz legen. Er schlüsselt dieses Thema noch weiter auf und kommt vor allem zu folgendem Schluss:
„Die beliebte Geschichte über die Aussetzung “behinderter” Babys in Athen oder Sparta sagt viel mehr über unsere Gesellschaft und ihre Wertvorstellungen aus, als über die griechische Gesellschaft in der Antike. “(1)
Diesem Zitat ist nichts hinzuzufügen. Wir Menschen mit Behinderung waren schon immer ein fester Teil der Gesellschaft und je eher diese Erkenntnis zur Norm wird, desto besser.
Zitat:
(1) https://autismus-kultur.de/autismus/geschichte/zeitalter-der-barmherzigkeit.html (abgerufen am 10.07.2021 um 15:20 Uhr)
Autor:Stephan Riedl aus Rodalben | |
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