Erinnerungen von Jutta Meyer an Weihnachten 1947
Zehn Eier für ein Puppenhaus
Von Jutta Meyer
Weihnachten 1947. Nach dem Ende des 2. Weltkrieges und der Vertreibung aus meiner Heimatstadt Danzig feierten meine Eltern und mein Bruder Dieter und ich 1947 erstmals das Weihnachtsfest wieder in den eigenen vier Wänden im Münsterland. Ärmlich waren die Wohnverhältnisse, ein kleines Wohn-Schlafzimmer für meine Eltern, eine kleine Küche ohne Wasseranschluss und eine kleine Dachkammer, in der mein Bruder und ich schliefen, auch fehlten alle Türen. Das Wasser für den täglichen Verbrauch musste im Hof von der Pumpe geholt werden und die Toilette war neben dem Schweinestall. Wir waren trotz der großen Not, denn auch zu Essen gab es wenig, sehr dankbar und zufrieden. Mein Vater war als Polizeibeamter in der Partei und nun arbeitslos. Die Weihnachtsgeschenke wurden von den Eltern selbst angefertigt. Mein Vater hatte sich Sperrholz von irgendwoher und eine Laubsäge besorgt und hatte mir eine wunderbare Puppenstube für den Weihnachtstisch gezimmert. Es war ein herrliches Geschenk, das ich stolz einer Freundin zeigte. Sie war hellauf begeistert. Die Puppenstube war aufklappbar, hinter der bemalten Fassade befanden sich auf zwei Stockwerken mit vier Zimmern. Für die Zimmer hatte mein Vater auch das Mobiliar angefertigt. Die Eltern meiner Freundin hatten einen großen Bauernhof, Essen in Hülle und Fülle. Einen Tag, nachdem meine Freundin meine Puppenstube bewundert hatte, erschien sie mit ihrem Vater bei uns, der ebenfalls von der Puppenstube, die sogar einen Balkon hatte, fasziniert war. Er bot meinen Eltern einen Tausch an: „Ich gebe ihnen für das Puppenhaus zehn Eier, ein Brathuhn, einen Schinken Schmalz, Butter und einen Laib Brot, außerdem könnte ich einmal in der Woche einen Liter Milch bei ihm holen“, schlug er vor. Meine Eltern erbaten sich bis zum nächsten Tag Bedenkzeit, denn sie sahen meine Traurigkeit in den Augen. Unsere kleine Familie saß am Abend um den Küchentisch und sprach über das üppige Angebot. Ich brach in Tränen aus, ich wollte mich nicht von diesem wunderbaren Spielzeug trennen. Uns knurrte jedoch jeden Tag der Magen, also war das Angebot sehr verlockend. Durch Hamstern bei den Bauern bekam ich höchstens mal eine Speckschwarte, ein Ei oder etwas Brot. Die Bauern mussten täglich auch die Bettler aus den Städten versorgen, so dass sie nicht so freigebig sein konnten. „Papa fertigt Dir wieder eine Puppenstube an, er hat doch viel Zeit“, tröstete mich meine Mama, „denke bitte auch an die Familie, wir wären Dir sehr dankbar, so wertvolle Lebensmittel bekommen wir in der nächsten Zeit nicht auf den Tisch. Wir hätten für eine Zeit lang ausgesorgt“, meinte meine Mama. An diesem Abend konnte ich lange nicht einschlafen. Am nächsten Morgen stimmte ich unter Tränen dem Tausch zu. Als der Bauer mit seiner Tochter das Puppenhaus abholte, verkroch ich mich in der Dachkammer, der Schmerz war zu groß, der Hunger aber auch. Ich erinnere mich noch genau, habe den Geschmack heute noch im Mund, als die Pfanne mit Rührei und die Butterbrote am Abend auf dem Tisch standen. Mein Schmerz über den Verlust des geliebten Spielzeugs rückte in den Hintergrund. Papa löste sein Versprechen später ein und fertigte ein Puppenhaus an, das noch schöner als das erste war. Ich durfte ihm bei seiner Arbeit zusehen und war wieder glücklich und zufrieden.
In der heutigen Zeit spielen Mädchen längst nicht mehr mit zwölf Jahren, so alt war ich damals mit einer Puppe oder einem Puppenhaus. Die Zeit hat sich sehr geändert, heute sind Gespräche mit Freundinnen auf dem Smartphone, Shoppengehen und Fernsehen, natürlich auch Gesellschaftsspiele, die Vereinsangebote, heute durch die Pandemie leider eingeschränkt, im Mittelpunkt der Freizeitgestaltung von Kindern in diesem Alter. jm
Autor:Markus Pacher aus Neustadt/Weinstraße |
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