Die Kunst der Verwandlung
Das Theater Basel entfaltet mit Turandot ein Meisterstück

Foto: Ingo Höhn
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Die neue „Turandot“ am Theater Basel entfaltet auf den ersten Blick eine hochgradig ungewöhnliche und beinahe abwegig anmutende Konstellation: Die Regie hebt das Geschehen aus dem traditionellen, altchinesisch anmutenden Kaiserhof heraus und verpflanzt es in eine amerikanische Mafiamischwelt. Doch während man zunächst mit einem groben Stilbruch rechnet, offenbart sich schon nach den ersten Szenen, wie stimmig diese Idee in Wahrheit ist. Die Brutalität der Prinzessin, die in Puccinis unvollendetem Werk ohnehin eine zentrale Rolle spielt, passt in jene rücksichtlose Gangster-Szenerie, die wir aus einschlägigen Filmen kennen, so selbstverständlich, dass man sich fragt, warum niemand zuvor diese Brücke geschlagen hat. Statt scharfkantiger, gläserner Dekors oder einer allzu karg-modernen Regieästhetik betritt man in Basel eine elegante Villa, in der sich subtil asiatische Elemente mit dem mondänen Flair eines mafiösen Familiensitzes vermischen. Auf den Wänden prangen große Wandteppiche, in denen man fernöstliche Ornamente erkennt – eine Verbindung zur ursprünglichen Geschichte, die das Werk immer noch in einen exotischen Kontext taucht. Dennoch wirkt dieser Ort insgesamt mehr wie ein glanzvolles, im Untergrund aber gefährliches Domizil eines einflussreichen Clans. Dadurch ergibt sich eine faszinierende Verschmelzung zweier Welten: Auf der einen Seite das Erbe Asiens, das in Turandots Rätsel und den Mythen anklingt, auf der anderen Seite das Milieu organisierter Kriminalität, das in feinen Anzügen, geschwätzigen Bedienstete und einer manchmal greifbaren manchmal nicht greifbaren, aber stets präsenten Gewalt sein Gesicht findet.

Im Mittelpunkt steht hier ein Kaiser Altoum, der an Don Vito Corleone erinnert. Er bewacht sein Reich nicht mit eiserner Faust, sondern blickt mit einer gewissen Wehmut auf die eskalierenden Zustände. Man würde ihm kaum zutrauen, jene legendäre Drohgebärde mit dem abgetrennten Pferdekopf zu begehen, die man aus „Der Pate“ kennt. Wenn überhaupt, könnte eine solch grausige Methodik seiner Tochter Prinzessin Turandot in den Sinn kommen, denn sie erscheint als der eindeutig gefährlichere Part dieser Familie. Wie eine kalte, unnahbare Erbin verfügt sie über ein inneres Arsenal an Grausamkeit, das in der originalen „Turandot“-Handlung vielfach beschrieben wird: Die berühmten Hinrichtungen jener Prinzen, die die Rätsel nicht lösen können, passen in eine Mafiafamilie, der äußerer Glanz und innerer Terror gleichermaßen selbstverständlich sind.

Der Regisseur Christof Loy belässt es allerdings nicht bei diesem einfallsreichen Ortwechsel und der Verschmelzung von Orient und Okzident in einer scheinbar zeitgenössischen Ästhetik. Er geht einen Schritt weiter, indem er die Oper in vier Akte aufteilt. Wer das Werk kennt, wundert sich: Puccini hinterließ „Turandot“ zwar unvollendet, doch die Aufführungstradition spricht dennoch immer von drei Akten, wobei der dritte Akt in einer von Franco Alfano fertiggestellten Fassung erklingt. Loy stellt die Alfano-Musik jedoch vollständig in Frage. Die Oper wechselt in ihrem letzten Abschnitt in einen weißen Raum, der plötzlich aus der Bühnendekoration herunterfährt und alles Gewohnte überblendet. Hier entfaltet sich nicht die gängige Alfano-Variante, sondern die finale Musik aus „Manon Lescaut“.

Sobald man aber den harten Kontrast zwischen den drei Akten von „Turandot“ und dem anschließend erklingenden vierten Akt von „Manon Lescaut“ wahrnimmt, bemerkt man die szenische und emotionale Stringenz, die sich da entfaltet. Puccini hatte bis zu seinem Tod an Turandot gearbeitet und lediglich Fragmente, Skizzen und lose Notizen hinterlassen, die Alfano später kompilierte. Doch unter Experten wird seit Jahrzehnten diskutiert, ob dieser Schluss wirklich dem emotionalen Feinsinn gerecht wird, den Puccini selbst anstrebte. Die rasche Wandlung der Prinzessin von einer eiskalten Menschenverächterin zur Liebenden wirkt in Alfanos Fassung für viele zu abrupter Triumph, während die unvollständigen Gedanken in Puccinis Manuskripten auf eine andere, subtilere Entwicklung hindeuten. Genau diese Sehnsucht nach einem anderen, vielleicht feinnervigeren Ende scheint Loy dazu gebracht zu haben, das Pathos der unglücklich liebenden Manon aus der gleichnamigen Oper in den Schluss zu integrieren. Man kann dabei lange darüber streiten, ob Liùs Tod in der traditionellen Turandot nicht bereits das notwendige Opfer darstellt, das die Läuterung der Prinzessin auslösen könnte. Doch der Regisseur möchte offenbar die ungeheure Eindringlichkeit des Manon-Lescaut-Finales nutzen, um Turandot in einen existenzielleren, ja beinahe mystischen Zustand zu versetzen. Der durch und durch weiße Raum, der zum Schluss herabsinkt, erscheint fast wie ein Zwischenreich, in dem alle Blicke unweigerlich auf die innere Metamorphose Turandots gelenkt werden.

Wer die Musik Puccinis schätzt, findet in diesem Ansatz ein Füllhorn an klanglichen Details und packenden Übergängen. José Miguel Pérez-Sierra steht am Dirigentenpult und führt das Sinfonieorchester Basel zu einer Leistung, die von behutsamer Durchhörbarkeit bis hin zu dramatischer Kraftentfaltung alle Facetten vereint. Bereits in den ersten Minuten Manon Lescaut ertönt, wenn das Orchester in der eleganten Villa die Mafia-Eingangsszene klanglich untermalt, wird deutlich, wie genau hier gearbeitet wurde. Mit dem zeitigen Einsatz der Turandot wirkt dann alles sehr präzise akzentuiert, die Tempi variieren durchdacht, und sowohl weiche, anrührende Passagen als auch die harschen Schicksalsschläge eines tödlichen Machtkampfs finden ihre adäquate tonale Färbung. Der Chor, zusammengesetzt aus dem Theaterchor Basel, Extrachor und einer Knabenkantorei, muss sich zu Beginn mit einer diffizilen Aufstellung seitlich über dem Zuschauerraum arrangieren, was kurzzeitig für leichte Koordinationsschwächen sorgt. Doch sobald sich das Ensemble in die szenische Erzählung einfügt, klingt die chorische Wucht plastisch und geschlossen, was zu jenen großformatigen Momenten führt, die eine Turandot-Interpretation unverzichtbar machen. José Miguel Pérez-Sierra leitet das Sinfonieorchester Basel mit einer Mischung aus Präzision, Leidenschaft und Sinn für die nuancierten Kontraste, die Puccinis Partitur so reich machen. Dabei arbeitet er immer wieder feine wunderbare Details heraus.

Im Zentrum des Abends steht zweifellos Miren Urbieta-Vega als Turandot. Sie verleiht der Figur ein Timbre von fast schneidender Klarheit, ohne je in bloße Schärfe zu verfallen. Ihre Stimme klingt gleichsam beherrscht und distanziert, als wolle sie jeden Anflug von Mitgefühl zurückhalten, um den eiskalten Machtanspruch Turandots zu verkörpern. In der sonst so prachtvollen Villa, die dank der asiatisch angehauchten Wandteppiche und dekorativen Elemente immer noch ein Hauch von fernöstlicher Märchenwelt umweht, wirkt Urbieta-Vega manchmal wie eine tödliche Blume, die auf einem unheilvollen Boden blüht. Ihre Partie beherrscht sie so souverän, dass es am Schluss umso beeindruckender wirkt, wenn sie sich in den Manon-Lescaut-Sequenzen plötzlich emotional öffnet und die kühle Perfektion in einen fast hilflos-berührbaren Ausdruck verwandelt. Die Idee der Regie, dass Turandot über die Musik einer anderen Puccini-Heldin zu einer neuen Selbsterkenntnis findet, bekommt dadurch eine fesselnde Plausibilität.

Einen starken Kontrapunkt zu ihrer Härte setzt Rodrigo Porras Garulo, der den unbekannten Prinzen Calàf singt. Er tritt mit einer solchen Bühnenpräsenz auf, dass seine Duette mit Turandot in jeder Hinsicht hoch elektrisiert sind. Sobald seine Stimme im Raum erklingt, entsteht jener besondere Sog, der in den berühmten Passagen wie „Nessun dorma“ kulminiert. Man erlebt hier nicht nur die Wucht eines tenoralen Kraftakts, sondern auch eine sensible, klug abgestufte Phrasierung, die an den dunkleren Farben seiner Mittellage ansetzt und sich in starken mächtigen Höhen entfaltet. Die Metapher des risikobereiten, rätselliebenden Prinzen wird glaubhaft verkörpert, weil man Calàf nicht allein als Draufgänger sieht, sondern als Mann, der mit jedem gesungenen Wort seinen gefährlichen Weg verteidigt.

Im Umfeld dieser Hauptpartien fällt Liù, die von Mané Galoyan gesungen wird, ins Auge. Gerade in der Eröffnungsszene, als das ganze Drama seinen Lauf nimmt, beeindruckt sie mit mächtiger Strahlkraft, die durchaus überrascht, weil Liù traditionell eher als sanfte Figur angelegt ist. Man erlebt hier eine Interpretation, die weniger leise Töne anstrebt, als vielmehr eine selbstbewusste junge Frau zeigt, deren Gefühlswelt sich auch in stimmlicher Präsenz ausdrückt. Das lässt aufhorchen, weil man sich fragt, ob damit nicht ein Stück der lieblichen Zerbrechlichkeit verloren geht, die Puccini für Liù vorgesehen hat. Allerdings findet Galoyan spätestens im Todesszenario doch zu einer zarten, leisen Klanggestaltung, die ihr umfangreiches Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten offenbart. In der Vorlage, die von dieser Produktion schwärmt und zugleich kritisch Stellung bezieht, klingt an, dass es vielleicht gar keiner derart kraftvollen Attacken zu Beginn bedurft hätte. Doch der Gewinn eines kontraststarken Rollenporträts macht sich bemerkbar, wenn Liù sich letztlich in tragischer Größe opfert.

Das Ensemble rund um Timur, den entthronten Tatarenkönig, den Kaiser Altoum und die bekannten Triofiguren Ping, Pang und Pong fügt sich in diese unkonventionelle Mafiageschichte stimmig ein. Sam Carl gibt Timur jene würdevolle Melancholie, die den alten Mann in diesem Setting als verlorene Autorität mit geheimnisvoller Vergangenheit erscheinen lässt. David Oller, Ronan Caillet und Lucas van Lierop knüpfen als Ping, Pang und Pong an die grotesken Tonlagen der Originalpartitur an, schleusen aber immer wieder flüchtige, humorvolle Momente in die düstere Villa. Das Ensemble trägt seinen Teil dazu bei, dass die Mischung aus westlich-asiatischem Mafia-Dekor und Puccinis kaum zu bändigender Musik ein sich gegenseitig befruchtendes, wenn auch befremdliches Ganzes wird. Andrew Murphy als Mandarin sowie Elio Staub als Prinz von Persien und die vier Bediensteten Pascu Orti, Giuliana Sollami, Marie Da Silva und Giuseppe Bencivenga komplettieren das Bild.

Eine entscheidende Metamorphose erfolgt schließlich mit dem Wechsel zum vierten Akt. Während vorher alles in der stilvollen Villa stattfindet, in der die Wandteppiche mit ihrer fernöstlichen Ornamentik auch an den ursprünglichen China-Schauplatz erinnern, senkt sich auf einmal ein komplett weißer Raum ins Bühnenbild. Diese Ebene wirkt, als wären alle Mafia-Insignien von einem Moment auf den anderen ausradiert. Auf der nun leeren, kargen Bühne erklingt das Finale aus „Manon Lescaut“ und beschwört eine intensiv verdichtete Atmosphäre von Tod und Hingabe herauf, die Turandot und Calàf in eine andere Dimension setzt. Genau in diesem Augenblick öffnet sich das Tor zu einer Puccini-Welt, in der man nicht länger die Grandezza einer grausamen Prinzessin bestaunt, sondern an das verzweifelte Sterben einer geliebten Frau erinnert wird. Viele Beobachter sind überzeugt, dass Puccini selbst, wenn er länger gelebt hätte, möglicherweise ein subtileres, nicht ganz so triumphales Finale für Turandot gestaltet hätte. Insofern könnte diese Collage, die Loy anbietet, als eine durchaus legitime Fortführung des ästhetischen Geists verstanden werden, der in Puccinis späten Opern schlummert. 

Foto: Ingo Höhn

Im finalen Akt von Manon Lescaut verschmelzen Rodrigo Porras Garulo und Miren Urbieta-Vega in einer Darbietung, die gleichermaßen berührt und elektrisiert. Garulo transportiert die innerliche Zerrissenheit mit einer tiefen, fast erlebbaren Intensität, während seine kraftvollen, doch fein nuancierten Töne den dramatischen Höhepunkt in eine emotionale Kathedrale verwandeln. Parallel dazu entfaltet Miren Urbieta-Vega, deren Stimme zuvor als eiskalte Manifestation der Turandot imponierte, nun eine überraschend verletzliche Wärme, die ihre Rolle in ein bewegendes Zeugnis menschlicher Tiefe transformiert. Gemeinsam kreieren sie ein musikalisches Duett, das nicht nur die tragische Melancholie des Originals einfängt, sondern sie in eine zeitlose, transzendente Harmonie hebt, die dem Publikum unvergessliche Momente intensiver, fast ekstatischer Ergriffenheit schenkt.

Wer diesen radikalen Schluss miterlebt, erkennt, dass er weit mehr ist als eine bloße Kuriosität. Das Publikum erhält die Chance, die emotionale Sprengkraft des vierten „Manon Lescaut“-Aktes unmittelbar zu erleben. Gerade dort zeigt sich nämlich Puccinis kompositorische Meisterschaft, die in grenzenloser Verzweiflung und gleichzeitiger erhabener Musikalität kulminiert. So schließt sich eine gedankliche Schleife: Das Ganze begann nicht etwa mit einer herkömmlichen Einleitung zu Turandot, sondern bereits mit einem Manon-Lescaut-Motiv, der Abend ist also gleichsam von Anbeginn an zweigeteilt. Während man sich anfänglich einen direkteren Übergang in die eigentliche Turandot vorstellen könnte, greift Loy lieber auf eine raffinierte Rahmung zurück, um dem Publikum die Spannung einer allmählich zusammenfließenden Doppelwelt zuzumuten. An dem Punkt, da sich alle Mafia-Mauern und Wandteppiche in einer unirdischen Weiße auflösen, kommt die emotionale Wahrheit ans Licht, die Puccini in beiden Werken auf ganz unterschiedliche Weise entworfen hat: die Sehnsucht nach Liebe, das Scheitern an menschlicher Grausamkeit und eine Art tragisches Erkennen im Augenblick größten Leids.

Diese Inszenierung ist verrückt im schönsten Sinne, weil sie den festen Platz der Dinge neu ordnet und dabei eine psychologische Folgerichtigkeit aufweist, die mitten ins Herz der menschlichen Abgründe zielt. Wer am Ende applaudiert, hat also nicht nur einer mitreißenden Aufführung applaudiert, sondern auch einer klugen, wenn auch sehr eigenwilligen Bearbeitung, die die Turandot-Erzählung bis an ihre Grenzen auslotet und dabei beweist, dass radikale Neubefragungen in der Oper oft mehr Licht ins Dunkel bringen, als man manchmal zugestehen möchte.

Foto: Ingo Höhn
Foto: Ingo Höhn
Autor:

Marko Cirkovic aus Durlach

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