„Musik zu hören, ist das Schönste auf der Welt“
Saisoneröffnung im Festspielhaus Baden-Baden
Die feierliche Eröffnung der neuen Festspielsaison im Festspielhaus Baden-Baden ließ an Glanz und Fülle kaum Wünsche offen. Die zu Beginn ergehende, ungewöhnlich eindringliche Bitte, doch sämtliche Handys auszuschalten, unterstrich das Streben nach einer unverstellten Klangwelt: Keine Störungen, kein digitales Flackern sollte die Hingabe an die Kunst beeinträchtigen.
Dem folgte Benedikt Stampa, der mit einer prägnanten Ansprache die Festspielsaison eröffnete. Treffend sprach er das schlichte, aber unverrückbare Credo „Musik zu hören, ist das Schönste auf der Welt“ aus – ein Satz, der im Grunde all das auf den Punkt bringt, was die Kunstform, das Publikum und den Ort selbst vereint. Jener Gedanke stand über dem ganzen Abend wie ein stiller Leitsatz, um gleich darauf in die Tat umgesetzt zu werden. Das Programm schien zunächst kontrastreich: Richard Wagner, Antonín Dvořák, Josef und Johann Strauß, Franz Lehár und Emmerich Kálmán, interpretiert von der Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern unter Pietari Inkinen. Ungewöhnlich? Gewiss – und doch fügte sich alles in eine raffinierte Dramaturgie, die mit einer noch etwas unsicheren Einstimmung begann: Das Vorspiel zu Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ wirkte eingangs asynchron und verhalten, fast als müssten sich Orchester und Dirigent erst in die Gefühlswelt des Abends hineintasten.
Doch sobald Tenor Andreas Schager die Bühne betrat und das berühmte „Morgenlich leuchtend im rosigen Schein“ anstimmte, war alles Bedenken verflogen. Ungeachtet eines plötzlich ertönenden Handyklingelns – ein durchaus ironischer Bruch zum Thema „Handy-Aus“ – spielte Schager seine Stimmkraft und Ausdruckstiefe voll aus. Er vereinte eine mühelose Höhe mit kräftiger Durchsetzung und beseelter Hingabe, sodass man sich augenblicklich in Wagners Klangwelt versetzt fühlte. Sein Siegfrieds Schmiedelied aus „Siegfried“, das er kokett mit Hammer und Amboss darbot, bewies zudem seine sängerische und darstellerische Vielseitigkeit. Ebenso wirkungsvoll war sein Ausflug in die Operette, als er „Dein ist mein ganzes Herz“ aus Lehárs „Das Land des Lächelns“ mit tänzerischer Leichtigkeit und geschmeidigem Timbre veredelte.
Nicht minder eindrucksvoll brillierte Camilla Nylund. Ihre Stimme, so klar wie ein unberührter Bergbach und gleichzeitig so reißend und gewaltig wie der Ozean, entfaltete eine in allen Lagen strahlende Intensität, die mit jedem Ton fasziniert. Ihre Höhen leuchteten wie geschliffene Edelsteine von fast überirdischer Reinheit, sodass man stellenweise glaubte, ihr Gesang stamme nicht von dieser Welt. In „Dich, teure Halle“ aus „Tannhäuser“ hatte man bereits einen Vorgeschmack auf ihre dramatische Ausdruckskraft erhalten, doch erst in Dvořáks „Mesícku na nebi hlubokém“ (Rusalkas Lied an den Mond) enthüllte sich ihre wahre künstlerische Vielschichtigkeit. Mit anfangs ganz zarter Linienführung, beinahe fragil und im Ausdruck behutsam, zeigte Nylund zunächst nur einen Hauch jener stimmlichen Brillanz, die in ihr schlummert. Diese Zurückhaltung wirkte umso fesselnder, als sie sich am Ende der Arie, genau im richtigen Moment, zu einer wahren Klangexplosion steigerte und das Publikum mit überwältigender Strahlkraft in ihren Bann zog – eine Schönheit, in sich roh und ungeschliffen, die sie dennoch mit größter Kontrolle entfaltete.
Dass auch die leichtere Muse ihr liegt, bewies Nylund überzeugend mit Operettenklassikern von Johann Strauß und Franz Lehár. Ihr „Vilja-Lied“ aus „Die lustige Witwe“ spielte sie mit geschmeidiger Eleganz aus, was dem Stück eine zarte, fast schwebende Qualität verlieh, ohne dabei dessen schmachten-romantischen Charakter zu verlieren.
Mit Polkas und Walzern, unter anderem der Ouvertüre zu „Die Fledermaus“ und dem herrlich souveränen „Kaiser-Walzer“, holten sie das Publikum in eine Welt perlender Lebensfreude. Die Übergänge zwischen den Stilen fielen nach dem anfänglichen Stolpern zunehmend fließend aus und bewiesen, dass dieses Orchester ebenso die emotionale Tiefenschicht Wagners wie das beschwingte Funkeln der Wiener Operette beherrscht.
Schager und Nylund triumphierten zum Ende des Abends in hinreißenden Duett- und Solonummern: Zum krönenden Abschluss setzten die Solisten und das Orchester noch einmal unverkennbare Glanzpunkte. Als Zugabe sangen Andreas Schager und Camilla Nylund von Franz Lehár „Wer hat die Liebe uns ins Herz gesenkt“ aus der Operette „Das Land des Lächelns“ sowie „Lippen schweigen“ aus „Die lustige Witwe“, bevor die Deutsche Radio Philharmonie mit dem Radetzky-Marsch von Johann Strauß den Saal endgültig in ausgelassene Feststimmung versetzte. Das Publikum klatschte begeistert mit und feierte diesen stimmungsvollen Ausklang, der den so vielschichtig angelegten Abend auf gelöste Weise abrundete.
So bestätigte sich, was Benedikt Stampa eingangs proklamiert hatte: Das Hören von Musik ist in der Tat etwas, wenn nicht alles, vom Schönsten auf der Welt. In Baden-Baden durfte man diese Schönheit an jenem Abend in ihrer ganzen Vielfalt erleben, von der anfangs noch etwas zögerlichen Unklarheit bis hin zur glanzvollen Entfaltung zweier prachtvoller Stimmen, eines wandelbaren Orchesters und eines Publikums, das sich begeistert dem Rausch der Klänge hingab. Es ist wohl kaum zu bezweifeln, dass dies ein Auftakt war, der die Festspielsaison mit strahlender Zuversicht und einem Lächeln im Saal eröffnete. Und wer weiterzulesen wünscht, möge dies gerne tun. Die Kritik ist erörtert – meine Gedanken jedoch führen ein bisschen weiter.
Wenn wir von Schönheit sprechen, denken wir oft an Kunstwerke, Naturphänomene oder menschliche Begegnungen. Doch Musik besitzt eine einzigartige Gabe, uns in einen Zustand der Empfindsamkeit zu versetzen, der jenseits aller greifbaren Kategorien liegt. Man könnte fast sagen, sie existiere in einer eigenen Dimension, in der Zeit und Raum auf merkwürdige Weise verschmelzen. Ein Ton kann sich endlos dehnen, eine Melodie kann uns scheinbar hinforttragen, ehe ein einzelner Akkord uns plötzlich mit unerwarteter Sanftheit wieder auf den Boden zurückholt. Dieser stetige Wechsel von Nähe und Entrückung schafft ein Spannungsverhältnis, das uns nicht nur unterhält, sondern bis ins Innerste bewegt.
Wenn man Musik lauscht, eröffnet sich eine Welt, in der sich das Persönliche und das Allgemeine spiegeln. Jede Hörerin, jeder Hörer nimmt den Klang subjektiv wahr, fühlt ihn auf individuelle Weise. Gleichzeitig aber bietet die Musik etwas Universelles, eine Gemeinsamkeit im Erleben: Eine Melodie kann zugleich trösten und jubilieren, kann Schmerz zum Ausdruck bringen und doch Hoffnung verströmen. Sie kann alles in sich aufnehmen, was unsere Seele bewegt – Liebe, Verlust, Sehnsucht, Begeisterung, Zweifel, Neugier. Darin liegt eine tiefe Kraft, die sich nur schwer erklären lässt. Und so, wie die Seele unendlich zu sein scheint, so scheint Musik unendlich viele Facetten, Farben und Emotionen zu bergen.
Schönheit in der Musik entspringt dabei nicht allein harmonischen Klängen oder virtuosen Verzierungen. Sie ist ebenso in den dissonanten Augenblicken zu finden, wenn Spannung aufgebaut und im nächsten Moment in wohliger Auflösung befreit wird. So entsteht ein lebendiges Wechselspiel zwischen Erwartung und Erfüllung, zwischen Bangen und Erleichterung. Dieses Gefühl von Entgrenzung – einmal im leisen Pianissimo, ein andermal in einer gewaltigen orchestralen Steigerung – bringt uns an einen Ort, an dem wir die Routine des Alltags vergessen. Wir werden Zeuginnen und Zeugen einer Klangsprache, die zugleich intim und unendlich weit ist.
Man könnte sich fragen, was es genau ist, das Musik so machtvoll werden lässt. Vielleicht ist es ihre Unmittelbarkeit, ihre Flüchtigkeit, das Nichtsichtbare, das jedoch intensiv spürbar wird. Denn im Gegensatz zu einem Kunstwerk, das man betrachten kann, existiert ein Ton nur im Augenblick seines Erklingens. Er ist für einen Herzschlag da, berührt uns, wird Teil unserer Erinnerung und verweht im nächsten Moment. Doch bleibt er in unserer Innenwelt lebendig. Jede Wiederholung derselben Passage entsteht neu und ist doch vertraut. So bleibt uns die Musik stets im Fluss, erneuert sich mit jedem Hören und lässt uns selbst in Bewegung geraten.
Diese Bewegung kann eine Reise ins eigene Selbst sein, eine Suche nach der Essenz dessen, was uns antreibt und erfüllt. Sie kann aber auch eine Verbindung zu anderen Menschen schaffen, indem wir gemeinsam im Konzertsaal sitzen oder im heimischen Wohnzimmer lauschen. Zusammen zu schweigen, wenn die letzten Töne verhallen, und diesen hauchzarten Moment der Stille zu spüren – das ist wie ein unsichtbares Band, das sich zwischen allen Anwesenden spannt. Genau darin liegt das Geschenk, von dem Benedikt Stampa sprach: Das Bewusstsein, dass wir in der Schönheit der Musik zusammenfinden können, gleich welchen Hintergrund wir haben, welche Gedanken uns plagen oder welche Freude uns beflügelt.
So verweist uns Musik nicht nur auf das Erhabene, sondern auch auf das Unaussprechliche, das in uns schlummert und durch Klänge eine Stimme erhält. Es ist ein Weg, um das innere Leuchten unserer Seele zum Klingen zu bringen, um diesen unbeschreiblichen Zustand zu teilen, in dem man zugleich losgelöst und zutiefst verwurzelt ist. Wenn sich in einem dramatischen Fortissimo unsere ganze Intensität entlädt und wir in einem schwebenden Pianissimo unsere Verletzlichkeit spüren, wird offenbar, wie nah uns diese Kunstform geht.
Am Ende wird klar, dass die neue Festspielsaison genau dies vermitteln möchte: das Geschenk, sich inmitten von Klängen zu verlieren und sich zugleich selbst näherzukommen. Man verlässt den Saal mit einem stillen Staunen, das alle rationalen Erklärungen beiseitelässt und uns das Herz öffnet. Und so bleibt das Hören von Musik tatsächlich das Schönste auf der Welt, weil es uns an den Ursprung unseres Empfindens führt: an einen Ort, wo Worte enden und die reine Empfindung beginnt.
Autor:Marko Cirkovic aus Durlach |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.