Fortsetzung folgt
Am Ende die Freiheit
Liebe Leser des Wochenblattes,
hier entsteht eine Fortsetzungsgeschichte, die dem Buch von Jakob Martens: Am Ende die Freiheit entnommen ist. Im wöchentlichen Rhythmus werden Ausschnitte aus den spannenden Lebenserinnerungen des Deutschen aus der Ukraine zu Beginn des 20. Jahrhunderts wiedergegeben. Da Buch ist im Buchhandel (z. B. bei Thalia) erhältlich.
Der Autor lebte in einer deutschen Bauernsiedlung im damaligen Regierungsbezirk Dnepropetrowst (Ukrainisch Dnipro). Die heutige Geschichte beginnt mit der Rückreise von der Zentralschule in Choritza am Dnepr im Jahr 1914, wo er vier Jahre im Internat verbrachte.
Jahrbücher zu Krieg und Revolution
1914 – Dunkle Wolken am politischen Himmel
Es ist der schönste Frühlingsmonat Mai 1914. Wir Schüler der Chortitzer Zentralschule haben die vierte Klasse beendet und auch eben unsere Zeugnisse erhalten. Nein, ich bin nicht unter den besten Schülern der Klasse; dennoch erlaubt sich Lehrer Fröse beim Überreichen des Zeugnisses die Bemerkung: »akuratnej njemez.« Was soll das bedeuten? Soll es dennoch ein kleines Lob sein? Eine Zwei gilt bei uns in der Schule als die niedrigste Note. Fünf ist die höchste. Ich habe in den meisten Fächern eine Vier. Die Fünfen sind bei mir nur sehr rar, höchstens in Fleiß und Betragen. Auch eine Drei glänzt in meinem Zeugnis.
Wie wohl die meisten Schüler habe auch ich meine Lieblingsfächer. Während Geographie, Welt- und Kirchengeschichte meine Lieblingsfächer sind, ist der sogenannte »Sperber« mein ausgesprochener Feind. Er ist der Herausgeber einer schwer verständlichen religiösen Abhandlung. Und die macht mir wie auch den Mitschülern immer wieder Kummer. Daher auch die erwähnte Drei.
Von 41 Schülern, die wir in der ersten Klasse waren, sind noch 26 übrig geblieben, die restlichen sind in diesen vier Jahren auf andere Schulen gewechselt: Gymnasien, Kommerz- Real- und Landwirtschaftliche Schulen. Nachdem wir das Examen bestan- den haben, ist uns ein großer Stein vom Herzen gefallen. Zudem kommt nun als Krönung der vier Schuljahre das Schönste von allem, eine zweiwöchige Reise nach Moskau und St. Petersburg. Längst haben die zwei uns begleitenden Lehrer alles in die Wege geleitet: Die Zugfahrten organisiert, Quartiere in Petersburg be-
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stellt und dergleichen. Wir zahlen jeder an die uns begleitenden beiden Lehrer 25 Rubel. Das soll ausreichen für Fahrkarten, für annähernd 4.000 Kilometer hin und zurück, Unterkunft und Verpflegung sowie verschiedene Eintrittsgelder. Ob es ausreicht? Unsere beiden Lehrer haben dort seinerzeit studiert und müssen es wissen. Für alle schulischen Exkursionen gibt es übrigens in Russland bei Eisenbahnfahrten und Besichtigungen bedeutenden Rabatt.
Und nun sind wir von der wunderschönen Reise wieder zurück in Chortitza. Unsere Erwartungen sind bei weitem übertrof- fen worden.
Die Reise bis Moskau in extra reservierten Coupés verlief wie im Flug, obwohl sie annähernd 36 Stunden dauerte. In Moskau fuhren wir zum Kreml. Es hat sich wirklich gelohnt. Wir sahen die altertümlichen Paläste, wo seinerzeit die russischen Könige mit ihren Bojaren* in langwallenden Gewändern und langen Bärten residierten. Ein Palastführer gab die nötigen Erklärungen.
Vieles hätte man in Moskau noch sehen können, wäre unser Hauptziel nicht St. Petersburg am finnischen Meerbusen gewesen. Wir saßen wieder im Coupé des Personenzuges und fuhren auf der besten russischen Eisenbahn unserem Ziel entgegen. Auch in St. Petersburg gab es vieles zu bestaunen. Etwa das grandiose Winterpalais mit seinen un- zähligen prachtvoll ausgestatteten Gemächern, die wir durchschreiten durften. Dort wurden seinerzeit die glanzvollsten europäischen Feste gefeiert. Auch sahen wir die wunderbaren Springbrunnen in Schloss Peterhof mit seinem Kaiserpalast. Im Paradies kann ́s nicht schöner sein. Theater, Oper, Museen und ein englisches Kriegsschiff durften wir besichtigen. Schön waren auch die nordischen weißen Nächte, in denen man nicht mehr wusste, wo die Abenddämmerung aufhörte und die Morgenröte anfing. Es würde zu weit führen, wollte ich alles Erlebte schildern. Es machte auf uns einen unauslöschlichen Eindruck.
* Nichterblicher Dienstadel ohne eigenen Besitz.
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All das in einer Woche Gesehene wird uns für immer in angenehmer Erinnerung bleiben.
Schüler und Lehrer nehmen voneinander Abschied, um sich in alle Winde zu zerstreuen. Ob für immer? Wer kann den Zukunfts-schleier lüften? Mein Schulkamerad und Freund J. Klippenstein aus meinem Heimatdorf Grünfeld, der mit mir vier Jahre Freud und Leid geteilt hat, ist als begabter Schüler armer Eltern Stipendiat. Er bekommt somit alles frei und darf nun noch zwei Jahre die pädagogischen Klassen absolvieren, um dann als Lehrer seinen Dienst anzutreten. Für mich ist der weitere Weg noch nicht klar. Da wir eine große Familie sind, steht die Frage im Raum, ob nicht im nächsten Jahr doch andere Geschwister eine Ausbildungschance bekommen sollen.
Wir nehmen nun Abschied auch von Chortitza, das uns in den vier Schuljahren zur zweiten Heimat geworden ist. Unwillkürlich tauchen noch manch schöne Erinnerungen auf. Ob es nun die jährlichen Maifeiern waren, die vielen lehrreichen und unterhaltenden Literaturabende, die die Zentralschüler und die Schülerinnen der Mädchenschulen gaben oder die tiefen, breiten und romantischen Täler, in denen wir während der Staatsfeiertage das Spiel der Großen dieser Erde, nämlich Krieg, spielten. Es ging bei uns allerdings viel humaner zu. Wohl gab es während der heißen Kämpfe Abschürfungen, Tote hat es aber nie gegeben. Auch der breite Dnepr mit seinen kalten Fluten und seinen malerischen Ufern wird uns angenehm in Erinnerung bleiben.
Schulkamerad Willms bringt uns beide zur Eisenbahn und bald dampfen wir in Richtung Heimat. Nach der Ausfahrt aus dem Bahnhof biegt der Zug in nordwestlicher Richtung ab und macht eine große Schleife um ein breites, tiefes Tal. Chortitza entschwindet für einige Zeit unseren Blicken; dann taucht es wieder in nächster Nähe auf und wir können es noch einmal in seiner ganzen Größe mit seinen drei rauchenden Fabrikschloten,
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Dampfmühlen, schönen Häusern und Gärten sehen. Der Zug beschleunigt bereits das Tempo und Chortitza entschwindet nach und nach unseren Blicken. Jetzt ragt von einer Erhöhung nur noch der zwiebelförmige Turm der russischen Kirche einsam in den Himmel. Dann ist alles verschwunden. Ja, es gab auch eine russische Kirche in der Mennonitensiedlung Chortitza für die vielen russischen Arbeiter, die in den Fabriken und anderen Betrieben arbeiteten. Auch an diese hoch auf dem Berge stehende Kirche knüpfen sich jetzt bei mir Erinnerungen.
Es muss in den letzten Jahren unseres Aufenthalts gewesen sein, als unser russischer »Schulaufräumer«* und Klassenheizer im Zentralschulhof auf einen Birnbaum stieg, herunterfiel und sich lebensgefährlich verletzte. Bald starb er an den Verletzungen. Es war ein schwerer Verlust für die Schule und noch viel schwerer für die große Familie, die damit ihren Ernährer verlor. Der Schmerz in der Familie war grenzenlos. Alle Lehrer und Schüler formierten sich auf dem Schulhof und begleiteten den Leichenzug zur Kirche. Sie füllte sich mit Trauergästen. Viele Kerzenlichter wurden entzündet und der Pope waltete seines Amtes. Ungewohnt süßlicher Weihrauchduft durchzog immer stärker den vollen Raum. Die Frau und die kleinen Kinder waren untröstlich.
Hier auf diesem einsamen Berg in der Nähe der Kirche war es auch, wo wir 1913 zur Feier des 300-jährigen Bestehens der kaiserlichen Dynastie der Romanows ein Feuerwerk veranstalteten. Es war ein herrlicher Anblick. An vielen Hofauffahrten bei Fabriken, Mühlen und Schulen waren Ehrentore mit verschiedenen Ornamenten in bunten Farben errichtet worden. Abends erhellten brennende Kerzen die Tore. »Gott schütze unsern Kaiser«, stand auf den meisten Toren zu lesen. Entlang der Straßenzäune wurden hunderte papierene Lampions angebracht, deren Kerzenlicht die Straßen erleuchteten. Jeder Schüler erhielt zur Feier des Tages eine Tüte Süßigkeiten.
* Hausmeister
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Wir sind bereits weit entfernt von Chortitza. Durch die Wagenfenster sehen wir wogende Ährenfelder vorüberziehen. Bald ist wieder Erntezeit. Schon sind einzelne Roggenfelder gemäht. Schmuck in Reih und Glied stehen die schweren Hocken. Wir beiden im Coupé sind guter Stimmung. Wie mag es zu Hause aussehen? Ob man uns heute erwartet? Wir nähern uns einer kleinen einsamen Station: Tock. Bei der Einfahrt des Zuges in den Bahnhof sehen wir eine Gruppe Russen stehen, Männer und Frauen. Ein stattlicher Mann in Polizeiuniform ist unter ihnen, eine Frau an seiner Seite, die alles andere als glücklich aussieht. Nein, die Frau hat anscheinend großen Kummer. Mein Freund und ich beobachten die Gruppe. Fährt der Uniformierte mit uns mit? Der zweite Glockenklang mahnt zum Einsteigen. Der Mann macht Anstalten sich zu verabschieden. Die Frau klammert sich impulsiv und bitterlich weinend an den Hals des Mannes und gibt ihn nicht frei. Nur mit Gewalt trennen die Verwandten sie von ihrem Mann und führen sie weg. Verlegen steigt der Uniformierte ein. Wird er einberufen? Wir wissen es nicht, sind aber äu- ßerst betroffen. Im tiefsten Frieden? Ist es wirklich so tragisch für die Frau, sich für etliche Zeit von ihrem Mann zu trennen? Oder hat sie bange Ahnungen – Visionen kommender Dinge? Auf alle Fälle ist die frohe Reisestimmung von uns gewichen. Während der Zug fährt, hängen wir unseren Gedanken nach und diese kreisen immer wieder um den Vorfall auf der Station Tock.
Die Abenddämmerung bricht bereits herein. Wir nähern uns dem Knotenpunkt Dolginzewo und hier wähnen wir uns bereits zu Hause. In der Ferne flammen schon wie leuchtende Perlen an einer endlosen Schnur die großen Bogenlampen der Kriwoj- Roger Erzgruben herüber, ein uns seit vielen Jahren vertrautes Bild. Wir steigen in Dolginzewo aus, um zwei Stunden auf den nächsten Zug zu warten. Im Saal erster Klasse machen wir es uns bequem. Er ist durch Gaslampen erleuchtet. Wie auf allen größeren Bahnhöfen singt auch hier der Samowar (Teekocher) sein
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ewig monotones Lied. Auf der langen weißgedeckten Theke sind verschiedene appetitliche Esswaren zum Verkauf ausgestellt, unter anderem mehrere zu hohen Pyramiden aufgeschichtete Apfelsinen. Da in unseren Kassen nach der großen Moskaureise totale Ebbe herrscht, können wir uns nichts leisten.
Endlich meldet ein anhaltendes Läuten auf dem Gehsteig des Bahnhofs das Herannahen unseres nächsten Zuges. Eine halbe Stunde Nachtfahrt und wir sind auf dem kleinen und spärlich erleuchteten Heimatbahnhof angelangt. Da wir uns zu Hause nicht angemeldet haben, ist auch niemand zu unserem Empfang erschienen. Wir geben das Gepäck im Aufbewahrungsraum ab und begeben uns zu Fuß auf den Heimweg. Er führt drei Kilometer immer am Schienenstrang entlang. Wie stets, wenn wir aus Chortitza nach Hause kommen, und es »drocke Zeit«* ist, betrete ich geräuschlos das Haus, um die müden Schläfer nicht zu stören. Nur einer wird geweckt, um Licht zu machen. Kaum fängt indes die leise Unterhaltung an, so steckt schon hier und dort ein zweiter den Kopf zur Türe herein, und keine halbe Stunde später sind die meisten bereits munter und das Erzählen nimmt kein Ende.
Von nun an wird auch für mich das frühe Aufstehen wieder zur Regel, da es auf der vielfältigen Wirtschaft** viel Arbeit gibt. Wir stehen kurz vor der Ernte. Weil unser alter Garbenbinder nach zehnjährigem Einsatz immer öfters streikt, hat Vater einen neuen gekauft und zwar einen Mac-Cormick, mit dessen Technik wir schon mehr oder weniger vertraut sind. Der Techniker David Löwen hat uns die Maschine zusammengebaut, so dass es jetzt während der Arbeit wohl keine nennenswerten Pannen geben wird.
Vater hat sich immer sehr für das politische Weltgeschehen interessiert. Weil sein Sehvermögen jedoch viel zu wünschen übrig
* Arbeitsintensive Zeit.
** Landwirtschaftlicher Betrieb.
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lässt, ist es von nun an meine ständige Aufgabe, ihm nach der Tagesarbeit die »Odessaer Zeitung« vorzulesen, die wir außer der »Friedensstimme« seit Jahren beziehen.
Es fällt mir nicht leicht, mich nach des Tages Müh’ und Arbeit noch eine bis eineinhalb Stunden dieser Aufgabe zu widmen. Ich tue es jedoch gern, umso mehr, als auch ich Interesse daran habe, was in der Welt vor sich geht.
Gegenwärtig ist es auf der Balkanhalbinsel sehr unruhig. Wie die Zeitungen übereinstimmend melden, werden im Süden der Österreichisch-Ungarischen Monarchie große Kriegsmanöver abgehalten. Sie finden zur Empörung aller Serben in der Provinz Bosnien statt, die erst 1908 der Doppelmonarchie einverleibt wurde, obwohl sie von Slawen bewohnt ist und daher auch von Serbien beansprucht wird. Die Manöver sollen am 27. Juni abgeschlossen werden.
Wir schreiben den 28. Juni 1914. Es ist mein 17. Geburtstag. Doch nicht dieses Familienereignis ist heute wichtig. Da wir vierzehn Personen im Hause sind, wird von den häufigen Geburtstagen bei uns sowieso nicht viel Aufhebens gemacht, geschweige denn dieselben gefeiert.
Viel, viel wichtiger sind die Ereignisse, die sich auf der Balkanhalbinsel abspielen. Wie die telegrafischen Nachrichten melden, ist heute am 28. Juni 1914 in der Hauptstadt Bosniens, Sarajewo, ein Attentat auf den habsburgischen Thronerben Erzherzog Franz-Ferdinand und seine Gemahlin Sophie von Hohenberg verübt worden. Der Thronfolger wohnte einem Manöver bei und begab sich nach dessen Abschluss nach Sarajewo. Wer sind die Schuldigen? Wer hat die grausige Tat vollbracht?
Laut Nachrichtenlage sitzen die Drahtzieher des Attentats in Belgrad, der Hauptstadt Serbiens. Sieben serbische Patrioten seien beauftragt worden, diese ruchlose Tat zu vollführen. Einem dieser sieben ist sie gelungen – obwohl er sein Leben damit verwirkt hat. Wie eine drohende Gewitterwolke hängt dieses Ereignis nun über der ganzen Welt. Wie werden die verbündeten Mächte der beiden Gegner Serbien und Österreich auf diese Tat reagieren?
Weitere Informationen unter
http://www.kliewer-verlag.de/
0631 5 34 96 87
Autor:Berthold Kliewer aus Kaiserslautern |
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