Die schleichende Gefahr der Lieferengpässe für Medikamente
„Dieses Medikament ist derzeit leider nicht lieferbar“
von Ralf Vester
Gesundheit. Während in den vergangenen Wochen das Corona-Virus mit stetig steigenden Infektionszahlen aus China in aller Munde war und ist und die gefühlte Bedrohung durch die ersten in Deutschland bekannt gewordenen Fälle zugenommen hat, gerät eine viel konkretere und greifbarere Gefahr für die Bevölkerung in den Hintergrund, die in der jüngsten Vergangenheit schleichend vorangeschritten ist. Es fehlen hierzulande schlicht und einfach zunehmend Medikamente.
„Das ist leider gerade nicht lieferbar“, diese Antwort hören die Patienten in deutschen Apotheken immer öfter. Besonders häufig gibt es Lieferschwierigkeiten zum Beispiel bei Blutdrucksenkern, Medikamenten gegen Krampfanfälle, Antidepressiva und Säureblockern gegen Sodbrennen. In der Regel geht es um verschreibungspflichtige Medikamente. Für Antiepileptika etwa gibt es schon einen regelrechten Schwarzhandel, bei dem sich Betroffene untereinander aushelfen. Manche bekommen bis Mitte März nicht mehr das Medikament, auf das zum Beispiel ihre Kinder eingestellt wurden.
Das Schmerzmittel Ibuprofen ist zwar auch betroffen, aber eher in den hoch dosierten Varianten, die es nur auf Rezept gibt. Zahlreiche Apotheken berichten von signifikanten Fehlbeständen bei Tabletten, Tropfen, Kapseln, Injektionslösungen und Spritzen. Und das Problem wird von Jahr zu Jahr größer: Meldete das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) im Jahr 2013 noch lediglich 42 Medikamente mit Lieferproblemen, sind es derzeit bereits knapp 290 – Impfstoffe gar nicht mal mitgezählt.
Laut Apothekerverband hat sich die Zahl der nicht verfügbaren Rabattarzneien fast verdoppelt – von 4,7 Millionen Packungen 2017 auf 9,3 Millionen im vergangenen Jahr. Rabattarzneien sind Medikamente, für die die Krankenkassen mit den Herstellern Rabattverträge geschlossen haben: Die Kassen müssen für sie weniger zahlen, im Gegenzug händigt die Apotheke den Versicherten vorrangig das Arzneimittel dieses Herstellers aus. Den Zahlen zufolge ist derzeit jedes 50. dieser Mittel von Lieferengpässen betroffen – also mehr als zwei Wochen nicht verfügbar oder deutlich stärker nachgefragt als angeboten.
Zwar lassen sich viele knappe Arzneien durch andere Medikamente ersetzen, doch das bleibt nicht ohne Folgen, denn das sind nicht die Mittel, auf die die Patienten eingestellt sind und nicht zwingend die, die sie auch am besten vertragen.
Die Gründe für die Lieferengpässe sind weitgehend bekannt. Weltweit steigt der Bedarf an Medikamenten. Im globalen Gesundheitswesen herrscht ein enormer Kostendruck. Viele Pharmakonzerne lassen deshalb Wirkstoffe in Fernost herstellen – etwa Antibiotika in China und Indien. Dort herrschen jedoch nicht selten laxere Hygiene- und Sicherheitsstandards. Wenn dort etwas schief läuft, kann kaum noch auf andere Fabriken ausgewichen werden. Die Folge: Ein Medikament ist wochenlang nicht lieferbar.
Steht die Produktion zeitweilig still oder kommt es wegen Verunreinigungen zu Arzneirückrufen, hakt es in der Lieferkette. Kein Hersteller hält bewusst Arzneimittel knapp oder gibt nur vor, lieferunfähig zu sein. Jeder Lieferengpass ist ein Vertrauensverlust und Imageschaden, was zu Umsatzrückgängen führt. Die Apotheker wünschen sich von der Politik mehr Anreize für eine stärkere Wirkstoffproduktion in Europa.
Das Thema ist in der Politik angekommen, aber dort tut man sich seit langem mit Antworten schwer. Union und SPD wollen dem zuständigen Bundesinstitut BfArM mehr Kompetenzen einräumen. Es soll befugt werden, unter bestimmten Voraussetzungen Pharmahersteller und Arzneimittelgroßhändler zu „geeigneten Maßnahmen zur Gewährleistung der angemessenen und kontinuierlichen Bereitstellung von Arzneimitteln“ aufzufordern. Die Unionsfraktion im Bundestag hat bereits im September ein Positionspapier auf den Weg gebracht, in dem sie unter anderem eine nationale Arzneimittelreserve fordert. Auch die SPD soll derzeit an einem solchen Positionspapier arbeiten.
Allerdings lassen sich Liefer- und Versorgungsengpässe nachhaltig offenbar nur auf europäischer Ebene lösen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat das offenbar schon erkannt. Er hat mit seinen Kollegen aus Portugal und Slowenien bereits vereinbart, die Vermeidung von versorgungsrelevanten Lieferengpässen als Teil des Triopräsidentschaftsprogramms aufzunehmen. Die drei Länder übernehmen 2020 nacheinander die EU-Ratspräsidentschaft.
Was können Patienten tun? Sie sollten sich frühzeitig um Nachschub kümmern, wenn regelmäßig Arzneimittel eingenommen werden müssen. So bleibt Arzt und Apotheke gegebenenfalls mehr Zeit, eine passende Alternative zu finden. Allerdings sind Hamsterkäufe bei Medikamenten auf Rezept kaum möglich und auch nicht sinnvoll. Blutdruckwerte etwa können sich ändern, und damit auch die Dosis des Arzneimittels. Das Wichtigste ist, dass sich die Patienten nicht verunsichern lassen, wenn sich beispielsweise Verpackung oder Aussehen der Tabletten ändern. Und wer sich letztlich doch unsicher ist, kann und sollte auf jeden Fall in der Apotheke nachfragen.
Autor:Ralf Vester aus Kaiserslautern |
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