Interview: Jeremias Thiel über Glück, Glücksgefühle und Zufälle
Kaiserslautern. Jeremias Thiel ist ein "Lautrer Bu", ein Kaiserslauterer mit Herz und Seele. Aufgewachsen im Wohngebiet "Kotte" mit einer spielsüchtigen Mutter und einem depressiven Vater, beide langzeitarbeitslos, wendet er sich mit elf Jahren ans Jugendamt mit der Bitte, ihn aus seiner Familie rauszuholen. Im SOS-Kinderdorf in Kaiserslautern findet er Halt und Struktur und kann dank Stipendien eine höhere Schulbildung und ein Studium absolvieren. Heute wohnt und arbeitet er in München. Ist seine Lebensgeschichte auf Glück begründet? Wie er darüber denkt und was ihn glücklich macht, erzählt der 23-Jährige im Interview.
Von Monika Klein
Herr Thiel, sind Sie ein glücklicher Mensch?
Jeremias Thiel: Ich bin ein zufriedener Mensch, der durchaus auch gerne mal melancholisch ist. Ich brauche das für mein Gefühl, über die Welt zu sinnieren, um auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben. Aber ja, ich bin zufrieden über meine Position in der Welt.
Glücksgefühle sind ja flüchtig. Vielleicht sind es Momente, Tage, Wochen oder Monate, aber sie dauern nicht an.
Thiel: Da bin ich ganz bei Ihnen. Glück ist ein momentaner Zustand, der schnell auch wieder vorüber ist. Glück ist kein allgemeiner existenzieller Zustand. Das Leben ist in Bewegung, eigene Ziele entfernen sich und es gibt prekäre Situationen, etwa Geldnot in der Familie. Glück ist nicht für jeden realisierbar und eigenes Glück ist auch vergänglich.
Sind Sie der Meinung, dass das Gefühl des Glücklichseins auch die Kehrseite, also das Unglücklichsein, voraussetzt?
Thiel: Glücklichsein erfordert die Erkenntnis, dass es ein momentaner Zustand ist und auch, dass unser Leben viel häufiger von Chaos, Unplanbarkeit und Leid geprägt ist, als wir es selbst akzeptieren wollen. Wenn man also stets nur Glücksempfinden fühlt oder darauf zumindest beharrt, dann scheint man Momente der mangelnden Freude eher zu unterdrücken oder nicht anzuerkennen. Ich kann zum Beispiel auch nicht mit einer Frau meine Lebenszeit verbringen, die immer nur glücklich ist und dabei – vielleicht auch aus Privilegien heraus begründet – die Kehrseite nicht kennt und in einer Art illusorischen Vorstellung, auch gegenüber sich selbst, lebt. Wie meinte Theodor Adorno einst, wenngleich in einem anderen Kontext: "Es gibt kein richtiges Leben im falschen."?
Sie stammen aus schwierigen familiären Verhältnissen, haben 2020 im Alter von 19 Jahren mit Ihrem Buch "Kein Pausenbrot, keine Kindheit, keine Chance" bundesweit für Aufsehen gesorgt und in den USA studiert. Würden Sie dem geflügelten Wort "Jeder ist seines Glückes Schmied" zustimmen?
Thiel: Auf keinen Fall würde ich dem zustimmen. Mein Glück ist, dass ich da bin, wo ich heute bin. Das beruht auf zufälligen Begegnungen, zum Beispiel über den SPD-Ortsverein in Kaiserslautern, in den ich mit 14 eingetreten bin und dort vom United World College Robert Bosch in Freiburg erfahren habe. Dank des Vollstipendiums und der finanziellen Unterstützung der SOS-Kinderdorf-Stiftung konnte ich diese Schule mit 16 besuchen und sie mit 18 mit dem Internationalen Abitur abschließen. Es war auch mein Glück, dass ich im SOS-Kinderdorf in Kaiserslautern aufgenommen wurde, das sehr gut ausgestattet ist und wo die Betreuer nicht ständig wechseln. Das alles ist ein Produkt von Zufällen, die manchmal beeinflussbar sind, manchmal nicht.
Ein Zufall ist es nicht, dass Sie ein- bis zweimal im Monat ihre Geburtsstadt besuchen?
Thiel: Für meine mentale Gesundheit sind die Besuche in Kaiserslautern sehr wichtig. In München gibt es eher eine Schickeria-Gesellschaft, in Lautern ist das alles normaler. Da fühle ich mich wohl. Hier ist meine Heimat, hier habe ich meine Wurzeln. Ich bin Pfälzer und trinke gerne Riesling. Ich identifiziere mich stark mit Kaiserslautern und bin ein großer FCK-Fan. Ich habe sogar ein Betze-Tattoo auf meiner linken Schulter. Wenn möglich, besuche ich die Heim- und Auswärtsspiele.
Es ist erstaunlich, dass Sie mit elf Jahren Verantwortung für Ihr Leben übernommen haben, indem Sie sich ans Jugendamt wandten mit der Bitte, Sie aus der Familie herauszunehmen. Wie kam es dazu?
Thiel: Das Jugendamt war durch die Tagesgruppe wegen der Glücksspielsucht meiner Mutter und der Depression meines Vaters sowieso präsent. Ich hatte die Weitsicht zu erkennen, dass ein Kind in einem solchen Umfeld nicht gut gedeihen kann.
Würden Sie sagen, Sie haben die Chancen und helfenden Hände ergriffen, die sich Ihnen geboten haben, und so den sozialen Aufstieg geschafft?
Thiel: Ja, insofern, dass es mir gut geht, dass ich mein regelmäßiges Einkommen habe. Aber es gibt 2,8 Millionen Kinder in Deutschland, die arm sind und die nicht das Glück haben, das ich hatte.
Kinderrechte und Kinderarmut sind die Themen, die Sie umtreiben. Wie sehen dahingehend Ihre Zukunftspläne aus?
Thiel: Mein Ziel ist es, nach Abschluss meiner Ausbildung – gerade habe ich mich an drei Universitäten, darunter Harvard in den USA, beworben– in die Landespolitik zu gehen. Man muss sich das Armutsproblem anschauen und die Symptome wie fehlende soziale und kulturelle Teilhabe, Bildungsungerechtigkeit oder ungerechte Vermögensverteilung bekämpfen und den Betreuungsschlüssel an Schulen und Kindergärten erhöhen. Problem ist, dass die Kommunen gerade in strukturschwachen Regionen verschuldet sind. Das ist auch in Kaiserslautern so, die Stadt verschuldet sich immer mehr. Entschuldung kann durch eine gute Industriepolitik mit der Neuansiedlung von Industrie gelingen, weil dadurch auch die steuerlichen Einnahmen steigen.
Zurück zum Glück. Was macht Sie glücklich, wo suchen Sie Ihr persönliches Glück?
Thiel: Sicher in der Philosophie und der ganz generellen Auseinandersetzung mit Ideen ganz genauso wie auf einer Wanderung oder, ganz allgemein, wenn die Miete bezahlt, der Kühlschrank voll und für das gesamte Wohl gesorgt ist.
Mit Blick auf das Weihnachtsfest. Wo werden Sie feiern?
Thiel: Das weiß ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt leider noch nicht so ganz. Sicher weiß ich aber schon jetzt, dass ich am 22. Dezember beim Betzespiel gegen Köln auf dem „Bersch“ bin und unsere Jungs vom FCK mit vollem Herzblut unterstütze.
Zur Person
Jeremias Thiel wurde am 4. Mai 2001 in Kaiserslautern geboren. Er lebte in einer Hartz-IV-Familie, bis er im Alter von elf Jahren in eine Jugendgruppe des SOS-Kinderdorfes Kaiserslautern zog. Dort beschäftigte er sich zunehmend mit den Themen Kinderrechte und Kinderarmut und begann, sich auf öffentlicher und politischer Ebene dafür einzusetzen. Mit 14 Jahren trat er der SPD bei. Zwei Jahre später konnte er über ein Vollstipendium das United World College Robert Bosch in Freiburg besuchen und 2019 mit dem Internationalen Abitur abschließen. Daran schlossen sich ein Studium der Politikwissenschaften sowie der angewandten Volkswirtschaftslehre und der Angewandten Statistik in den USA an. Seit Dezember 2023 arbeitet er für das SOS-Kinderdorf in München im Bereich des Großspendenfundraisings. Sein Buch "Kein Pausenbrot, keine Kindheit, keine Chance" ist 2020 im Piper Verlag, ISBN 978-3-492-06177-3, erschienen. lmo
Autor:Monika Klein aus Kaiserslautern |
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