Internationale Wissenschaftler wollen Toolbox für schrumpfende Städte entwickeln
Zuschlag für Kaiserslauterer Projekt

Auch das Pfaffgelände benötigt innovative Umsetzungs-ideen  | Foto: Jens Vollmer
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Kaiserslautern. Schrumpfende Kleinstädte und wachsende Großstädte sind allerorts eine problematische Entwicklung der heutigen Zeit. In Kaiserslautern trafen sich Wissenschaftler aus zahl-
reichen Nationen, um Erfahrungen über schrumpfende Städte auszutauschen, Lösungen zu suchen und weltweit zu adaptieren. Die Zusammenkunft ist der Startschuss eines vierjährigen Projektes mit einer Förderung von 3,3 Millionen Euro.

von Jens Vollmer

Wie kann die Versorgung mit Infrastruktur weiterhin gewährleistet werden, wenn durch die sinkende Bevölkerung auch die Steuereinnahmen einer schrumpfenden Stadt zurückgehen? Sind diese Städte noch lebenswert? Wie kann neue Wertigkeit entstehen?
Der demografische Wandel und der Verlust von Arbeitsplätzen führen weltweit in Städten zu einem Rückgang der Bevölkerung. Wie die Lebensqualität in schrumpfenden Städten erhalten oder verbessert werden kann, untersucht ein internationale Forschergruppe, bestehend aus Team von 16 Universitäten, Forschungseinrichtungen, Stiftungen und Unternehmen aus Europa, den USA, Mexiko und Japan, welche zukünftig interdisziplinär zusammenarbeiten werden.
Das Projekt „Reviving shrinking cities – innovative paths and perspectives towards livability for shrinking cities in Europe“, kurz „Re-City“, wird im Rahmenprogramm für Forschung und Innovation „Horizont 2020“ als Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahme von der Europäischen Kommission gefördert.
Dass die Koordination des Projektes bei Professorin Pallagst vom Fachbereich Raum- und Umweltplanung an der TU Kaiserslautern liegt und die EU-Förderung erhalten hat, ist eine besondere Auszeichnung für sie selbst und für Kaiserslautern. 1650 Anträge wurden gestellt, das in Kaiserslautern entwickelte Projekt bekam den Zuschlag mit 100 von 100 Punkten.
Bei Re-City geht es um Infrastruktur, Kultur und Migration. Weitere Themen sind der Einsatz von alternativen Energien, die Nutzung von städtischen Freiflächen für die Obst- und Gemüseproduktion (Urban Farming) sowie eine nachhaltige Gestaltung von Städten, um sie besser gegen Naturkatastrophen zu sichern.
Eine besondere Herausforderung wird die Digitalisierung als weitere Industrierevolution sein, die weitere Städte zu einem Umdenken zwingen wird. Industriezweige werden wegbrechen und den Wegzug von Bürgern forcieren.
Das Phänomen schrumpfender Städte ist weltweit zu beobachten. Ob nun im 35 Kilometer entfernten Pirmasens oder in Cleveland, USA. „Was den demografischen Wandel angeht, ist Japan 20 bis 30 Jahre weiter“, erläutert Pallagst. So kann die Stadt Nagasaki Vorbild für deutsche Städte sein und Cleveland, wo noch nach zukunftsträchtigen Ersatzindustrien gesucht wird, könnte wiederum von deutschen Städten lernen.
Polen hinkt der Entwicklung in Deutschland ebenfalls hinterher und interessiert sich für die Entwicklungen im Ruhrgebiet. „Die Schließungen der Gruben sind nun ein Thema in der Region Schlesien, die Erfahrungen daraus sind interessant zu übertragen“, verdeutlicht Tadeusz Stryjakiewicz, Geograph an der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen, den Mehrwert des neuen Netzwerkes.
Spannend sei die Frage, wie die Städte mit Industriebrachen umgehen und diese neu in das Stadtbild und das Stadtleben integrieren. Die Lösungen seien so verschiedenen wie die Nationen. Denkbar wären zum Beispiel Begrünungen bis hin zum Obst- und Gemüseanbau inmitten der Städte.
Dass die hiesige Region ein sehr gutes Beispiel für geglückte Stadttransformation sei, betont Professorin Pallagst. Sie habe dem internationalen Projektteam schon das Pirmasenser Dynamikum gezeigt, ein Beispiel, wie Europas größte Schuhfabrik erfolgreich einer neuen Funktion zugeführt wurde. Die Schuhstadt hatte in den letzten Jahrzehnten ein Drittel ihrer Bevölkerung eingebüßt, nun werden immer mehr ehemalige Schuhfabriken umgebaut, gleichzeitig entstehen neue Grünflächen für eine bessere Lebensqualität in der Stadt.
Bei einem Abendessen im Brauhaus an der Gartenschau wurde allen deutlich, was in Kaiserslautern schon geschaffen wurde. Der zur Gastronomie umgebaute Schlachthof, die zur Hochschule und Kulturzentrum umgebaute Kammgarn Spinnerei sowie die Gartenschau zeigen auf, wie Städte einer Industrierevolution begegnen können.
Dr. Kai Böhme von der privaten Forschungseinrichtung Spatial Foresight aus Luxemburg warnte, dass derzeit 45 Prozent der kleinen Städte in Europa an Einwohnern verlieren würden. Lösungen gäbe es - je nach Nationalstaat - unterschiedliche. Problem sei, dass es nicht genügend Führungskräfte und Experten zu diesem Thema gäbe. Deshalb seien nun 13 Doktoranden-Stellen ausgeschrieben worden.
Was früher nur im nationalen Kontext erörtert wurde, wird nun international beleuchtet. „Die Situation in Deutschland ist längst nicht so problematisch wie in den USA“, erklärt Pallagst.
Wichtig sei es, zukünftig ganz individuell voneinander zu lernen. So konnten die Schweden von den Spaniern lernen, wie eine Infrastruktur aufrecht erhalten werden kann. Während im hohen Norden Schwedens nur noch Tele-Medizin und E-Mail genutzt werden konnten und die Bevölkerung wegzog, hatten die Spanier durch sozialen Zusammenhalt und ehrenamtliches Engagement die medizinische Versorgung sowie die Postwege aufrecht erhalten und blieben in ihrer Heimat. „Jede Kultur hat ihre eigene Brille auf und sieht vielleicht das Naheliegende nicht“, verdeutlicht Pallagst.
Emmanuèle Cunningham-Sabote von der Pariser Hochschule „École normale supérieure“ vergisst auch nicht den Blick auf die Migration. Hier fehle es an wissenschaftlichen Arbeiten. „Die Städte sind ratlos angesichts der Migration“, warnt sie und dass obwohl Frankreich eine lange Geschichte der Migration vorzuweisen hat.
Ziel ist es, im Rahmen des Projektes den Städten „Werkzeuge“ an die Hand geben zu können, die Lösungswege zu verschiedenen Problemen bieten. Erste Ergebnisse sollen in circa anderthalb Jahren vorliegen, die gesamte „Tool-Box“ - als konkrete Hilfe für Städte - in drei Jahren fertig sein. jv

Autor:

Jens Vollmer aus Wochenblatt Kaiserslautern

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