Autismus
Autismus – Der Versuch, die Herkunft eines Wortes zu erklären

„Ich habe Autismus.“

Oft habe ich es als Betroffener erlebt und erlebe, dass viele Menschen bei diesem Begriff entweder das Gesicht verziehen, einen als verrückt abstempeln oder nachdenklich erscheinen, bevor sie fragen, was Autismus eigentlich ist. Dabei ist es faszinierend, das Wort an sich einmal genauer zu betrachten, weil sich aus seiner wortwörtlichen Bedeutung einiges herauslesen lässt. Trennt man nämlich nach Morphemen (die kleinste bedeutungstragende Einheit eines Sprachsystems), erhalten wir Aut-ismus.

Unter der Endung „-ismus“ versteht man eine Geisteshaltung, eine politische Richtung oder auch eine Lehre. Sie kommt vom altgriechischen „izein“; das heißt, „auf eine bestimmte Art zu handeln.“

„Aut“ wiederum kommt vom altgriechischen „αὐτός“. Es kann substantiviert stehen, dann heißt es „Der Selbe“; es kann attributiv stehen, dann heißt es „derselbe“, es kann prädikativ stehen, dann heißt es „selbst“ und selbst dann sind seine Funktionen noch nicht erschöpft, denn es kann auch als Pronomen verwendet werden, zum Beispiel als Possessivpronomen (was irgendwie passt, denn ich habe erfahren, dass ich für andere ziemlich besitzergreifend erscheinen kann) oder als Personalpronomen für die dritte Person. Dieses „Aut“ bzw. „auto“ ist selbst heute noch in den Sprachen der westlichen Kultur sehr aktiv, weil sich damit neue Wörter bilden lassen. Über Autosuggestion (Selbstbeeinflussung) und Autobiographie (Selbstlebensschreibe) bis hin zu Autonomie (Selbstständigkeit) lässt sich das auch am Lieblingskind der Deutschen beobachten: Während die Engländer und Amerikaner mit „Cars“ und die Franzosen mit „voitures“ unterwegs sind, verwenden Deutsche dafür „Autos“. Da kann man sich eine gute Eselsbrücke basteln: Wer ein Auto hat, ist im wahrsten Sinne des Wortes „selbst“ ständig.

Lange Rede, kurzer Sinn: Autismus heißt wortwörtlich „eine auf sich selbst bezogene Geisteshaltung“. Der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler erschuf dieses Wort ursprünglich, um eines der Grundsymptome der Schizophrenie zu beschreiben; aufgegriffen wurde der Begriff von Leo Kanner und Hans Asperger, die beide unabhängig voneinander Kinder untersuchten. Beide beschrieben unabhängig voneinander Teile von dem, was heute als Autismus-Spektrum zusammengefasst wird.

Asperger nannte von Autismus betroffene Kinder „autistische Psychopathen“; wortwörtlich heißt das so viel wie „auf sich selbst bezogene Gemütsleider“. Auch hier steckt viel drin: Autisten empfinden nicht besser oder schlechter als neurotypische Menschen (neurotypisch = Bezeichnung der Autism-Rights-Bewegung als Bezeichnung für Nicht-Autisten), sondern eben anders. Vergleichen wir das Gehirn eines neurotypischen Menschen mit einem Stromkreis, dann sind die Kontakte eines autistischen Menschen anders miteinander verdrahtet. Dabei fehlen oft Gestik und Mimik, etwas, was Autisten sich aneignen müssen wie neurotypische Menschen Vokabeln lernen.

Gestik und Mimik tragen sehr viel dazu bei, wie Menschen miteinander kommunizieren, sogar noch mehr wie Sprache generell. Für einen Autisten existiert, wenn er kein passendes Training erhält bzw. erhalten hat, nur Sprache; seine physische Eigenwirkung ist ihm meist nicht bewusst. Jedenfalls ging es mir so. Erst, als ich ein paar Bücher gelesen habe, habe ich begriffen, warum zum Beispiel Politiker mehrere Stunden Fahrt auf sich nehmen, um sich gegenseitig zu sehen: Weil die Körpersprache, die Gestik, die Mimik, von den Beinen bis hoch zu den Augen, nur in Natura Aufschluss geben kann, wie das Gesagte gemeint ist. Oder von einem anderen Blickwinkel betrachtet: Menschen haben zwei Triebfedern: Die Emotionale und die Rationale.

Die Emotionale steht bei Nicht-Autisten im Vordergrund und die Rationale ist ein Werkzeug. Bei Autisten ist es umgekehrt. Ein Beispiel: Ein Nicht-Autist will Technik studieren, weil er Maschinen konstruieren will, um armen Menschen zu helfen. Dabei dient die ganze Mathematik und Technik als Werkzeug, damit er sein emotionales Ziel (die Maschinen für die armen Menschen) erreichen kann.
Ein Autist will Technik studieren, weil ihn Technik und Mathematik einfach nur faszinieren und er sich stundenlang damit beschäftigen kann. Es ist ein Abtauchen in die schöne Welt der Zahlen und Logik. Emotionen hat er zwar auch, doch die Rationale steht im Vordergrund. Er hat zwar auch ein Ziel (mehr Wissen aneignen), aber es kann sein, dass er das Ziel nur um des Zieles willen verfolgt und sein Wissen praktisch nicht anwenden will oder kann.

Abschließend noch zum Wortgebrauch: Genauso wie ‚Psychopath‘, werden „Autismus“ und „Autist“ im Internet sehr gern als Beleidigung verwendet, oft, um jemanden zu beschreiben, der sozial unbeholfen ist oder sich richtig tief in etwas hineinsteigern kann. Beides ist beleidigend gegenüber echten Autisten, da die soziale Unbeholfenheit ein Problem ist, das je nach Ausprägung und Sozialisation ihr ganzes Leben beeinflusst, während das Letztere sich über die Spezialinteressen lustig macht, die Autisten haben. Aber gerade in besagten Spezialinteressen steckt ungeheures Potenzial: Wenn sich zum Beispiel die Mutter den Computertechniker sparen kann, weil Sohnemanns Spezialinteresse Technik ist und den Laptop repariert, kann man sich zum Beispiel glücklich schätzen. Oder wenn der Autist mit Spezialinteresse Onkologie ein Mittel gegen Krebs entwickelt...

Summa Summarum ist Autismus eine riesige Chance, die genutzt werden und nicht unterdrückt werden sollte.

Zu meiner Person:
Ich selbst bin Asperger-Autist, war ein U-Boot-Kind (Kind, bei dem feststeht, dass es etwas hat, aber bei dem die Eltern nichts tun) und bin nach zwei praktischen Ausbildungen und einem Studium nun als EUTB-Teilhabeberater beim Seelentröpfchen in Kaiserslautern tätig. Zu meinen Spezialinteressen gehören neben Krafttraining und Ernährung auch alte Sprachen wie Latein und Altgriechisch.

Als Kind und Erwachsener wurde mir von meinen Eltern eingeschärft, meinen Autismus geheim zu halten, weil man mich sonst, ich zitiere, „auf die Dummenschule“ verfrachtet und „in die Werkstatt“ abgeschoben hätte. Etwas, was ich nicht mehr mache, weil es erstens sinnlos ist und zweitens, weil ich dank meiner Lebenserfahrung gelernt habe, wie schädlich es für einen Autisten sein kann, wenn seine Behinderung nicht berücksichtigt und bewusst verdrängt wird.

Es ist in unserer Gesellschaft selbstverständlich, dass von einem Rollstuhlfahrer nicht erwartet wird, einen Marathon zu laufen; ebenso sollte es selbstverständlich sein, dass Autisten besondere Bedürfnisse haben und von Zeit zu Zeit Rückzugsorte brauchen. Ich bin dafür, dass wir uns dafür einsetzen, dass die Bedürfnisse von Autisten auch so selbstverständlich umgesetzt werden.

Stephan Riedl

Quelle:
1. http://www.heyderw.de/autismus/au_was.html
2. https://autismus-kultur.de/autismus/autipedia/autismus-spektrum-glossar.html

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Autor:

Stephan Riedl aus Rodalben

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