Eine Weihnachtsgeschichte von Eckhard Adler
Das Gegenteil

Paulsen war ein alter Mann, dessen Jahre schon ins Jenseits reichten. Er war zufrieden mit sich und dem Leben, bis ihn ehrlose Opportunisten um die Ruhe seines Alters brachten. Am Tag des Heiligen Abends würde er seinen Neunzigsten feiern. So ist das mit den alten Leuten, die mit etwas Glück alt und grau werden, während das Christkindlein ewig jung bleibt. Ein Häuschen nannte er sein Eigen, mit einem Garten, der sich bis an das Ufer des kleinen Flusses streckte. Dort wohnte Paulsen, zusammen mit seiner Tochter, die auch kein junges Blut mehr war, und die sich täglich um ihren alten Vater mühte. Herta hier und Herta da! Manchmal wurde ihr der eigene Name zur Qual. Herta, beinahe ein Schlagwort, das ihre Seele aushöhlte, wie der ewige Tropfen den flachen Stein vor dem Haus, aus dessen Kuhle nun die Vögel trinken.
Paulsen verglich den Fluss mit sichtbar gewordener Zeit, der einen Tag um den anderen mit sich spülte, während wildes Efeu das Haus umgarnte und sich in den Ritzen festklammerte. Einen Jungbrunnen nannte er seinen Garten und die Schwielen an den Händen verrieten, welche Energie seinem alten Herzen half. Ein schweres Leben, das einen Winter lang Ruhe verdient hätte. Aber vor seinem Neunzigsten wollte er die Waffen nicht strecken - sich nicht Tod erklären lassen. Zwei Kriege hatte er überlebt und eine Menge Schutt wegräumen müssen. Viele Aufbaujahre in Kauf genommen, um in seinem Haus zu wohnen. Doch dann trachtete ihm die moderne Neidgesellschaft nach Besitz und Leben, allzeit bereit beides zu entsorgen. Ja ihn, den alten Mann zu ersticken und sein Idyll platt zu walzen, um darauf Straßen in die Zukunft zu bauen. „Haltet ein, ihr Gottlosen! Wo werden eure Gräber sein?, wenn die Natur zurück schlägt und alles Leben mit sich nimmt!?“, das und noch ein paar Zeilen schrieb er an die Zeitung, die ohnehin vor Leserbriefen platzte. Der Protest eines alten Mannes, der Füller und Duden noch einmal rausgekramt hatte, um sich seiner Haut zu wehren. Gut, dass es da Herta, seine Tochter gab, die ihn aufmunterte und zur Seite stand.
Auch Herta zählte mit ihren Sechzig zum Sperrmüll eines Staates, der Alte, Kranke und Kinder vernachlässigte. Tagesschau, Nachrichten und die Presse berichteten von dem ständigen Hick Hack in der Politik. Doch Hertas Sinne standen bei ihrem alten Vater, dem sie ein Dahindümpeln in fremder Umgebung ersparen wollte. Ihr genügte dabei die Dankbarkeit, die leider schon absehbar in seinen Augen stand, als sie die Geburtstagsvorbereitungen traf. Gleich zwei Geburtstage an einem Tag. Der des Christkindes, das in einem Stall geboren und über das Kreuz den Weg in den Himmel fand. Und der, des alten Paulsen, der die Kriege überlebte und dem man keinen Erdenfrieden gönnte. Neunzig Jahre! Ein Anlass, den der Computer in der Verwaltung auf den Tisch des Bürgermeisters hämmerte, und der Gemeindebote floh in das Archiv, um Paulsens verstaubte Akte zu präsentieren. Potztausend! Ausgerechnet am Heiligen Abend stiehlt mir dieser alte Aufrührer die Zeit, wetterte der Bürgermeister, und gleichzeitig rechnete er die vielen Jahre Alters-, Renten- und Krankenkassenerstattungen hoch, mit denen Paulsen dem Staat zur Last fiel. Doch trotz dieses Verdrusses stand das gewählte Oberhaupt in der Pflicht, dem bereits mit neunzig Jahren überhäuften Jubilar noch weitere gesunde Jahre zu wünschen.
Der kleine Fluss schlängelte sich durch ruhende Auen, Weiden, Pappeln, Erlen und Eichen, die im Sommer reichlich Sauerstoff spendeten. Doch jetzt ragten sie nur noch atemlos und bizarr aus gefrorenem Schilf. Aber in den tiefen Wurzeln keimte noch glühendes Leben aus sonnenreichen Tagen in Erwartung des neuen Jahres. Darauf freuten sich die Menschen, die in dieser Gegend nachhaltig mit der Natur umgingen und die Statistik bestätigte ihnen ein hohes Alter. Hier war Paulsen zu Hause. In einem Paradies, plötzlich von wirtschaftlichem Denken bedroht, da die junge Elite auch hier alles in Beton gießen würde. Mit dickem Rotstift durchkreuzte sie das zusammenhängende Biotop, samt Paulsens Anwesen, auf ein für die Obrigkeit und den Lobbyisten sehr profitables Maß.
Schon früh kündeten die Glocken von der Geburt Jesu Christi, und sie erinnerten den alten Paulsen, dass auch sein Tag gekommen war. Er erwartete einige Gratulanten, vielleicht ja auch ein Telegramm des Ministerpräsidenten, dessen Atem aber viel zu entfernt schien, um an der Situation Paulsens etwas zu ändern. Doch hier ging es nicht um ihn allein, nein, sondern gleich um die Rettung einer ganzen Region, aus der viele Menschen die Kraft für ihren Alltag schöpften. Und es ging um den Kampf eines alten mutigen Mannes, der sein Schwert gegen Willkür und Unrecht erhob, und sei es mit seinem letzten Atemzug. „Haltet ein, ihr Gottlosen! Wo werden eure Gräber sein...?“, dieser Leserbrief hatte viele Emotionen und Sympathisanten auf den Weg gebracht, ihre Solidarität zu Paulsens Neunzigstem zu demonstrieren. Und sie rechneten ganz fest mit der Hilfe Gottes, der seinen eigenen Sohn zur Beseitigung der Finsternis als strahlendes Licht an einem Heiligen Abend auf die Welt geschickt hatte. Der Bürgermeister traute seinen Augen nicht. Vor dem Haus des alten Aufrührers wurde am Heiligen Abend demonstriert. Wahrscheinlich war der Paulsen auch noch der Rädelsführer von den Chaoten, die Spannbänder mit der Aufschrift: „Rettet die Auen!“ zum Himmel streckten und sich in Weihnachtsliedern ergaben. Blitze von Fotografen zuckten und visierten den alten Paulsen an, den man just in dem Moment in ein Weihnachtsmannkostüm gesteckt hatte als der Himmel ein Zeichen setzte und es zu schneien begann. Das Oberhaupt drängelte sich durch die Menschen, um dem Jubilar die Glückwünsche der Gemeinde zu überbringen. Scheinwerfer fluteten auf und eine Kamera dokumentierte die Aussage des Bürgermeisters, dass die Politik von irregulären Maßnahmen zugunsten einer intakten Naturlandschaft absehen wolle, um dem Willen der Bürger gerecht zu werden.
Die Leute hatten das himmlische Zeichen verstanden. Nicht immer muss man zu allem Ja und Amen sagen, wenn man vom Gegenteil überzeugt ist. Wenn man im innersten seines Herzens an eine gute Sache glaubt, die dem Schöpfer gefällt. Ein frohes und zufriedenes Weihnachtsfest war den Bürgern und Paulsen jetzt beschieden, denn sie waren einig mit Gott und wurden dem Vertrauen gerecht, das er von uns Menschen erwartet, seit er uns seine wunderbare Erde anvertraute. Und von den Titelseiten der Zeitungen lächelte ein freundlicher Weihnachtsmann, der niemals so viele Gratulanten hatte als an seinem Neunzigsten Geburtstag, an dem Tag, an dem auch unser Heiland geboren wurde.  ps

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Autor:

Stefan Endlich aus Wörth am Rhein

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