Unser aktueller Lese-Tipp
Wann ist man eigentlich noch lebendig?

Wann gilt ein Mensch eigentlich als tot? Mediziner in früheren Zeiten stellten nur dann den Totenschein aus, wenn der bedauernswerte Patient seinen letzten Atemzug gemacht und das Herz – lange Zeit als Symbol des Lebens begriffen – seine letzten Schläge hinter sich gebracht hatte. Mittlerweile jedoch ist die Welt schlauer: Auch wenn die mechanische Blutpumpe in der Brust noch störungsfrei arbeitet, alle Organe noch ihren Dienst versehen, geht die Reise bei einem diagnostizierten Hirntod unweigerlich ins Jenseits! Das Herz hat das zentrale Monopol auf´s Leben verloren!
Und genau mit dieser bitteren Tatsache müssen sich die Eltern des Simon Limbres in dem Roman „Die Lebenden reparieren“ von Maylis de Kerangal erst einmal vertraut machen. Ihr gerade mal zwanzigjähriger Sprössling macht in der Intensivstation nach seinem verheerenden Autounfall einen geradezu rosigen Eindruck – als würde er jeden Moment aufwachen und seinem Schöpfer danken überlebt zu haben. Doch das kann er nicht: Trotz aller Vitalfunktionen ist Simon hirntot, wird nie wieder aufwachen und in absehbarer Zeit unweigerlich völlig sterben. Und genau von da an entwickelt die französische Autorin de Kerangal die aufwühlende Geschichte um das Thema „Organ-Transplantationen“: Simons Organe, sein Herz, die Nieren, die Leber – alles arbeitet noch einwandfrei, allerdings nur noch eine begrenzte Zeit. Anderswo indes warten todkranke Menschen auf funktionierende und passende Organe. Die Zeit drängt: Soll und darf nun der nur vordergründig intakte Körper von Simon als lebensrettender Fundus für andere Menschen benutzt werden? Die Autorin legt mit ihrem Roman ein 24-Stunden-Protokoll aller Beteiligten vor, hat zum Thema Transplantation hervorragend recherchiert und scheut auch vor gewöhnungsbedürftig brutalen Detailschilderungen nicht zurück. Da sie jedoch eine begnadete Schriftstellerin ist zieht sie den Leser von der ersten Zeile an in einen Bann, dem man sich schwerlich entziehen kann. Atemlos scheint der Schreibstil, sie verästelt das Thema, bringt immer wieder neue Protagonisten ins Spiel und wirbelt den Leser durch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Mit äußerst sensiblen Verhaltensprotokollen der Beteiligten, mit detaillierten Portraits und unendlich poetischen Passagen schafft Maylis de Kerangal einen erzählerischen Korpus, der in der zeitgenössischen Literatur seines Gleichen sucht. Selten liest man Psychogramme, die derart aufwühlend und mitreißend, gleichermaßen atemlos, poetisch und informativ, nie langweilig und dröge akademisch zum brisanten Thema „Organ-Transplantation“ geschrieben wurden. De Kerangal hat bewiesen: Sie steht für hochkarätige Literatur, bei der man nach der Lektüre erst mal ordentlich Luft holen muss – um gleich wieder von vorne anzufangen…!

Maylis de Kerangal:
„Die Lebenden reparieren“
256 Seiten, gebunden
Èdition Gallimard Paris
Deutsche Ausgabe: Suhrkamp Verlag, Berlin
ISBN 978-3-518-42478-0

uba

Autor:

Udo Barth aus Bad Dürkheim

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