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Atemloser Überlebenskampf in einem fremden Land

Wie sich doch die Bilder ähneln! Jedermann kennt die Reportagen über heimat- und familienlose Flüchtlingskinder, die irgendwo im weiten Europa gestrandet sind, ohne Vater, ohne Mutter, ohne Sprache und Orientierung, ohne die geringsten finanziellen Mittel – woher denn auch? Kleine Menschenkinder von irgendwoher, angespült an europäische Großstadtküsten mit lediglich einer vagen Erinnerung an die Heimat.
Ein von der ersten Zeile an ergreifendes – fiktives - Protokoll eines solchen Schicksals hat der österreichische Autor Michael Köhlmeier mit „Das Mädchen mit dem Fingerhut“ in ein schmales Romanbändchen gegossen. Aber das hat es über 100 Seiten absolut in sich! Hauptprotagonistin ist dabei eine sechsjährige Unbekannte in einer nicht näher beschriebenen – wohl westlichen – Stadt, die weder ihren Namen zu nennen weiß, noch irgendwelche Informationen über ihre Herkunft preisgeben wird. Irgendwo „vom Himmel gefallen“, dient sie einer ebenso anonym bleibenden Gruppe als Organisatorin von Lebensmitteln und als jene Gruppe von heute auf morgen spurlos verschwindet, ist sie auf sich allein gestellt, wird ämtlicherseits aufgegriffen, in ein Heim verfrachtet, wo sie von zwei ebenso gestrandeten Jugendlichen zur Flucht überredet wird.
Es folgt eine Überlebens-Odyssee zwischen Müllcontainern und Brückenlagern – ein Szenario, das sich der Autor Köhlmeier sicherlich nicht selbst ausgedacht hat. Der Österreicher dokumentiert lediglich das, was in Europa tagtäglich passiert – ohne dass jemals jemand Notiz davon nimmt. Für große Schlagzeilen nämlich taugt das kleine Schicksal der heimat- und wurzellosen Kinder bedauerlicherweise nicht. Köhlmeier hätte indes durchaus eine journalistisch anspruchsvolle Reportage über dieses Thema lancieren können. Hat er aber nicht. Köhlmeier ist Schriftsteller, der sich seine Pfründe hauptsächlich mit Theaterstücken, Hörspielen, Prosa und Lyrik verdient. Und so liest sich denn auch sein Roman „Das Mädchen mit dem Fingerhut“. Es ist ein atemloser Roman, eine fast schon meditative Lektüre, die man eigentlich hören oder zumindest laut lesen sollte. Köhlmeier schreibt in kurzen, prägnanten Sätzen – ein Stakkato, an das man sich als Leser erst mal gewöhnen muss. Gleichwohl erzeugt er mit seinem knappen Stil eine Dramatik, die gerade diesem aktuellen Thema absolut gerecht wird. Dazu brennt er Bilder in das Hirn des Lesers, die dieser hoffentlich nie mehr vergessen wird. Denn dass es heutzutage zweifellos im gesegneten Europa immer noch entwurzelte „Container-Kinder“ gibt, die sich mit den Abfällen der Wohlstandsgesellschaft zu ernähren gezwungen sind – das sollte sich jeder langfristig verbildlichen und zu Herzen nehmen. Alleine deshalb gehört Michael Köhlmeiers Roman – abgesehen von seiner literarischen Qualität – fraglos zur Pflichtlektüre. 

Michael Köhlmeier:
„Das Mädchen mit dem Fingerhut“
144 Seiten, gebunden
Carl Hanser Verlag München 
ISBN 978-3-446-25055-0

uba

Autor:

Udo Barth aus Bad Dürkheim

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