Das Wesentliche in der Sprache
Vom optischen Trampelpfad und der akustischen Autobahn
Wenn Astrid Weidner ihre E-Mails abhört, dann passiert das so schnell, dass Anwesende nicht einmal „Bahnhof“ verstehen. Die blinde 44-Jährige aus Österreich, die im badischen Bruchsal wohnt und arbeitet, hat ihr Lesegerät auf fast fünffache Geschwindigkeit eingestellt. „Das ist nötig“, erklärt Weidner, die als Coach und Beraterin arbeitet, „sonst schaffe ich die Menge der Daten nicht. Jede E-Mail, jede Datei will schließlich Gehör finden.“
Seit Geburt blind, vergleicht sie ihren Sehsinn mit einem unpassierbaren Trampelpfad. Ihr Hörsinn hingegen sei „eine sechsspurige Autobahn“. So ist es kein Wunder, dass die Mutter zweier Teenager, größten Wert auf das Hören und Sprechen in der Kommunikation legt. Die Themen bilden sogar einen beruflichen Schwerpunkt für sie.
Sprache ist das Haupttransportmittel aller Aussagen, Aufforderungen und Fragen. Klare Anweisungen, eine unübersehbare Präsenz und die Wertschätzung des Gegenübers prägen Weidners Sprachstil. „Nicht nur als behinderter Mensch bin ich auf eine klare Kommunikation angewiesen“, erklärt die Diplom-Wirtschaftsingenieurin.
„Ohne Sehsinn fehlen mir zirka 80 Prozent der Informationen. Diese fange ich durch die anderen Sinne auf. Viel Information wird über die Sprache transportiert.“ Und dabei meint sie viel mehr als die Wörter, die gesprochen werden. Auch die Melodie der Sprache samt Pausensetzung, die Mimik und Gestik, die sie erstaunlich präzise wahrnimmt, die Artikulation und der Satzbau sagen etwas über den Sprechenden aus. „Und wirken sich auch auf den Hörenden aus.“
Weidner ist überzeugt: Sprache formt unsere Wirklichkeit und die unseres Gegenübers. Oft komme das Gesagte nicht oder verändert beim Gesprächspartner an. Schon Konfuzius gab den Rat auf Gedanken und Wörter zu achten, denn sie werden zu Handlungen und bilden letztendlich den Charakter eines Menschen. „Klare Aussagen sind effektiv. Sie werden verstanden“, betont die seit 2007 selbstständig Arbeitende.
Sie liebt Bogensätze: Eine Aussage pro Satz, eine eindeutige Stimmmelodie und eine Pause am Schluss, damit die Zuhörenden das Gesagte verdauen und verstehen können. Auch der Sprecher kann sich kurz sammeln und seinen nächsten Satz planen. „Wenn ich wörtlich ohne Punkt und Komma spreche, verwirre ich meinen Gesprächspartner und mich selbst. Auch das sagt etwas über meinen inneren Zustand aus.“
Auf Füllwörter wie „schnell mal“ oder „kurz“ verzichtet sie, denn „die lösen Stress aus, und davon haben wir alle schon genug!“ Und „man“ und passive Konstruktionen meidet sie im schriftlichen und im mündlichen. „Das ist für meine Mitarbeiterinnen eine Herausforderung. Einige Dokumente überarbeiten wir 15-mal. Am Ende sind sie nahezu perfekt und eindeutig verständlich.“ Das ist ihr wichtig.
Dass sie auf Grund ihrer Behinderung zur Sprachexpertin mutierte, ist ihrer Ansicht nach eher unwahrscheinlich. Zwar kommunizieren viele behinderte Menschen aus ihrem „Defizit“ heraus und stellen ihr Licht unter den verbalen Scheffel, doch sie sieht in erster Linie den Menschen hinter den Wörtern. Und das „sieht“ meint sie wörtlich. „Ich sehe die Leute anders. Ich achte auf die Nuancen in der Sprache und auf die Wortwahl. Anhand des Gesprochenen erkenne ich die Körperhaltung und die Aufnahmefähigkeit“, so Weidner, die auch Vorträge hält und Seminare zum Thema „Sprache formt Wirklichkeit“ gibt.
Im Seminar erklärt sie ihren Teilnehmern zuerst die korrekte Ansprache des Gegenübers. Sie stellt Situationen vor – Wie spreche ich meinen in Arbeit vertieften Kollegen richtig an? Wie bestelle ich Brötchen in der Bäckerei? Alltagssituationen sind manchmal „sprachliche Schlachtfelder“, viele Missverständnisse sind vermeidbar.
Sie selbst ist auf die akustische Ansprache angewiesen. „Es nützt mir nichts, wenn eine Seminarteilnehmerin den Finger streckt und wartet bis ich sie sehe und aufrufe.“ Für einige Seminarteilnehmer gleicht das einem Aha-Moment, berichtet Weidner.
Ihre Themen gelten für sehende und nicht-sehende Menschen gleichermaßen. Warum ein „Nein“ das Gehirn verwirrt und wieso wir idealerweise auf Modalverben verzichten „können“ sind ebenso interessant und wichtig wie falsche Superlative und der realitätshemmende Konjunktiv II.
Kann jemand der so großen Wert auf Sprache legt, sich überhaupt noch normal unterhalten? Astrid Weidner lächelt bei der Frage. „Ich gestehe, dass ich früher auch eine Weile sofort versuchte zu analysieren. Doch bin ich inzwischen davon weggekommen.“
Heute störe es sie kaum, wie Menschen mit etwaigen Ungereimtheiten, Zwängen und Komplikationen sprechen. „Ich analysiere erst später. Ich lasse erst die Sprache auf mich wirken. Ich höre auf die Musik der Sprache und genieße das Schöne und Kraftvolle darin. Ich empfinde der Sprache nach, ehe mein Verstand anfängt, das Gesprochene zu analysieren.“
Denn jeder Sprecher habe etwas Schönes und zeige die schönen Ansätze der Sprache, und sei es auch nur durch eine kleine bezaubernde Nuance in der Modulation. „Sein Wesen äußert sich dadurch.“
Autor:Nadia Ries aus Bad Schönborn |
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