Von Liebe und Vergebung
Arabella an der Deutschen Oper Berlin

Foto: Thomas Aurin

Die Aufführung von Richard Strauss’ „Arabella“ an der Deutschen Oper Berlin in der Inszenierung von Tobias Kratzer war faszinierend wie vielschichtig und eine Reise durch unterschiedliche Epochen und Stilebenen. Selten erlebt man ein solches Wechselspiel zwischen klassischer Theatertradition und filmischen  Elementen, das in seinem Kern doch stets dem zeitlosen Thema der Liebe und Menschlichkeit treu bleibt.

Bereits wenn sich der Vorhang zum ersten Mal hebt, wird das Publikum mit einer zunächst konventionellen Szenerie konfrontiert. Ein klassisches Bühnenbild, ganz in der Tradition opulenter Historienmalerei, zeigt die Salonwelt Wiens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die erlesenen Kostüme und das zurückhaltende Dekor schmeicheln dem Auge und verorten die Handlung in jenen familiären Konventionen und gesellschaftlichen Zwängen, die „Arabella“ von Richard Strauss thematisiert. In der Oper dreht sich alles um die titelgebende Protagonistin Arabella, die im Schatten ihrer Familie – speziell ihres bankrotten Vaters Graf Waldner – und im Konflikt mit den Erwartungen an ihre standesgemäße Heirat steht. Die Rolle der Zdenka, Arabellas Schwester, die aufgrund finanzieller Not als Junge ausgegeben wird, verdeutlicht auf frappierende Weise die Enge dieser Welt: Man versucht, sich den gesellschaftlichen Stürmen durch Täuschung zu entziehen, während gleichzeitig die innere Wahrheit nach Befreiung drängt.

Tobias Kratzer setzt dieser klassischen Ästhetik im Ersten Akt jedoch schnell ein filmisches Moment entgegen. Einzelne Projektionen und gezielte Kamerawinkel sorgen für eine Art Überblendung: Die Bühne wird zum Medium, das moderne Technik in einer historisch anmutenden Szenerie nutzt, um die Handlung aus einem überzeitlichen Blickwinkel zu betrachten. Leider – und das ist einer der ambivalenten Punkte dieser Inszenierung – Im Ersten Akt verweilt das Bühnenbild weiter hinten, sodass die Figuren in zwei offenen Räumen agieren. Man erkennt, wie sich Dialoge und Arien im hinteren Teil der Bühne entfalten, was unweigerlich zu merkwürdigen akustischen Phänomenen führt: Wo einzelne Stimmen doch eigentlich den Raum füllen sollen, wirken sie zuweilen gedämpft und und weit weg. Dieser Effekt ist weder dem Orchester zuzuschreiben noch den Interpretationen der Sängerinnen und Sänger, sondern rührt vielmehr von der räumlichen Anlage her. Tatsächlich wird das Klangbild im vorderen Bereich deutlich klarer, sobald die Künstlerinnen und Künstler ihre Position verändern.

Dennoch vermag man nicht zu leugnen, dass dieser inszenatorische Kniff eine gewisse ästhetische Faszination auslöst. Es wirkt, als blicke man durch eine historische Linse, durch die das Zeitgeschehen brüchig und mosaikhaft erscheint. Gerade für ein Werk wie „Arabella“, das nicht im gleichen Maße wie etwa „Der Rosenkavalier“ auf nostalgische Verklärung setzt, kann dieser cineatische Blick ein neuer Interpretationsansatz sein, auch wenn mir generell kaum eine Krater Inszenierung einfällt, bei der auf Video verzichtet wird. Wo Strauss in seiner Musik einerseits von spätromantischem Glanz lebt, offenbaren sich doch in den harmonischen Wendungen bereits Abgründe, die in einer modernen Zeitkritik ihren Widerhall finden können.

Dirigent Sir Donald Runnicles macht derweil keinen Hehl daraus, dass er diese Partitur in jeder Faser kennt. Vom ersten Takt an entfaltet er mit dem Orchester der Deutschen Oper Berlin einen Klang, der die ganze Palette Straussscher Raffinessen auslotet: Schwelgerische Streicher, fein abgestimmte Holzbläser und feurige Blechbläser fügen sich zu einem reichen, schimmernden Teppich zusammen. Zugleich ist Runnicles stets um Transparenz und Lebendigkeit bemüht. Jede Phrase scheint atmend und organisch modelliert, sodass man beim Zuhören immer wieder auf neue Details stößt: Sei es ein plötzliches Aufblitzen der Flöte in Arabellas Traumsequenz oder die dezenten Einschübe des Englischhorns, die an Zdenkas innere Zerwürfnisse gemahnen. Trotz der teilweise suboptimalen Akustik auf der Bühne gelingt es Runnicles, ein eindringliches Dialogspiel zwischen Sängern und Orchester herzustellen, das die dramatische Intensität des Abends trägt.

Allen voran strahlt Jennifer Davis als Arabella. Ihre Stimme entfaltet sich lyrisch und warm, mit jener besonderen Mischung aus Klangschönheit und Charaktertiefe, die für diese Rolle so essentiell ist. Man spürt in ihrem Timbre jene Liebessehnsucht, die Arabellas Welt bestimmt, aber auch den Stolz, mit dem sie Mandryka entgegentritt. Diese Arabella ist keineswegs eine passive Schönheit: Jennifer Davis gibt ihr eine selbstbestimmte Würde, die sich in jedem musikalischen Bogen, in jedem anrührenden Legato-Moment spiegelt.

Thomas Johannes Mayer als Mandryka überzeugt als genaues Gegenstück zu Arabellas Noblesse. Er stattet den mysteriösen, aus ländlichen Gefilden stammenden Bräutigam mit jener sinnlichen Tiefe aus, die den Gegensatz zwischen Wiener Salonschick und ungestümer Naturverbundenheit so faszinierend macht. Sein Bariton vibriert vor Kraft, doch schimmert darin eine verletzliche Weichheit auf, die in den lyrischen Passagen anrührt. Mandrykas Eifersucht und sein unbedingter Glaube an die Reinheit der Liebe werden so gleichermaßen glaubhaft.

Heidi Stober als Zdenka fügt dem Trio eine sprühende Energie hinzu, die nicht nur stimmlich, sondern auch szenisch begeistert. Sie stellt Zdenkas emotionale Zerrissenheit zwischen aufkeimender Liebe zu Matteo und der familientaktischen Maskerade ebenso lebendig dar, wie sie die filigranen Linien Strauss’ sicher meistert. Wo das Orchester mitunter üppig klingt, bleibt Zdenkas Stimme doch klar und frei, was ihr erlaubt, die Zerbrechlichkeit dieser Figur auszudrücken, ohne jemals an Ausdrucksstärke zu verlieren.

Die Figur des Matteo, gesungen von Daniel O’Hearn, ist wunderbar. Seine Partie fügt der Oper jene leidenschaftliche Dringlichkeit hinzu, welche die amorphen Beziehungsgeflechte zwischen Arabella, Zdenka und Mandryka weiter aufwühlt. O’Hearn stattet diesen Matteo mit einer beweglichen, eher hell getönten Stimme aus, die in den lyrischen Szenen eine anrührende Offenheit offenbart. Das Leiden dieser Figur, die Arabella zu Beginn liebt, aber in den Irrungen um Zdenkas wahre Identität gefangen ist, wird durch O’Hearns Darstellung greifbar. Wo die anderen Rollen oft in einer gewissen gesellschaftlichen Routine verharren, bricht Matteo immer wieder emotional aus, was zum Spannungsfeld der gesamten Dramaturgie beiträgt. Gerade weil er nicht im Mittelpunkt der Standeskalküle steht wie Mandryka oder Graf Waldner, erscheint er beinahe als Stellvertreter einer bedingungslosen Romantik, die, ohne finanzielle Absicht, eine reine Liebesvision verkörpert.

Erwähnung verdienen auch die weiteren Sänger, die in dieser Inszenierung ihren Teil zum komplexen Gesamtbild beitragen: Albert Pesendorfer als Graf Waldner, Doris Soffel als Adelaide und Thomas Cilluffo als Graf Elemer. Ohne hier auf jede dieser Rollen im Einzelnen lobend einzugehen, ist doch festzuhalten, dass sie alle solide Fundamente für die Hauptpartien bilden und das Ensemble zusammenhalten.

Im zweiten Akt vollzieht sich ein gewaltiger ästhetischer Bruch, der Tobias Kratzers Regiekonzept offenbart. Statt der anfangs filmischen Überblendungen und der klassischen Kulisse tritt nun eine Bühne hervor, die nach vorne gerückt ist: Die Trennwand scheint wie weggeblasen, sodass die Figuren viel näher am Publikum agieren. Das Bühnenbild ist zwar noch in Anklängen klassisch, ist aber insgesamt offener und nicht mehr separiert. Dadurch bessern sich auch die akustischen Verhältnisse signifikant. Die Stimmen gelangen nun ohne Umwege in den Saal, und die Sänger können sich deutlicher gegen das Orchester durchsetzen. Eine spürbare Erleichterung, nicht nur für das Publikum, sondern auch für die Darstellenden, die ihre feine Nuancierung nun unverfälschter transportieren.

Zdenkas Verstrickungen und Arabellas Suche nach wahrhaftiger Bindung öffnen den Blick darauf, dass Liebe für Strauss und seinen Librettisten Hugo von Hofmannsthal stets auch eine moralische Instanz ist. Wo Gesellschaftsnormen bröckeln, findet man in der Liebe den Anker. Kratzer unterstreicht dies, indem er die Figuren immer wieder in Momenten der Introspektion einfriert und sie zugleich umrahmt von projizierten Bildern unserer modernen Welt zeigt: Eine Collage aus Zeitreisen, Kriegsbildern und Konsumwahn flackert kurz auf. Dieser harte Schnitt zwischen klassisch-romantischer Handlung und gnadenloser Modernität setzt einen spannenden Kontrapunkt ohne jedoch den Opernabend in ein politisches Manifest zu verwandeln.

Der dritte Akt führt das zuvor angedeutete Konzept auf die Spitze. Der Sprung in unsere heutige Zeit ist perfekt. Man erkennt urbanen Minimalismus, zeitgenössische Kleidung und digitale Gadgets auf der Bühne. Arabella, Mandryka und Zdenka müssen sich nun in einer Welt zurechtfinden, die an ihrer eigenen Echtheit zweifeln lässt. Das Bühnenbild weist moderne Elemente auf, und man wähnt sich plötzlich nicht mehr im Wien des 19. Jahrhunderts, sondern in einer globalisierten Großstadt des 21. Jahrhunderts.

Zugleich wird hier das zentrale Motiv von Missverständnis und Verzeihen meisterhaft ausgespielt: Arabellas Missverständnis mit Mandryka, Zdenkas Enthüllung als Frau und Matteos verwirrte Gefühle verdichten sich zu einem Drama, das nur durch die Macht der Vergebung gelöst werden kann. Strauss’ Musik, die in diesen Schlussszenen in ihrer bittersüßen Harmonik und weiten Melodik den ganzen Facettenreichtum menschlicher Emotionen spiegelt, trägt entscheidend zum Triumph des Augenblicks bei. Sir Donald Runnicles lässt das Orchester feierlich erblühen, er schenkt den Sängern aber gleichzeitig genug Raum, um den lyrischen Abschluss – Arabellas berühmte Wasserglas-Szene – in all seiner gefühlvollen Größe auszukosten. Wenn Arabella das Wasser als Symbol der Reinheit und Versöhnung darreicht, meint man eine Brücke von Hofmannsthals poetischer Welt hinüber in unsere von Krisen geschüttelte Gegenwart zu erkennen: Am Ende steht das Angebot der Vergebung, das nicht nur zwischen Liebenden gilt, sondern grundsätzlich als Modell für eine bessere Welt dienen kann.

Wir mögen in einer scheinbar bürgerlichen Vergangenheit beginnen, durch die Verwirrungen der Moderne wandern und schließlich in einer allzu reellen Gegenwart landen, die alles infrage stellt. Doch wenn wir den Kern menschlichen Zusammenhalts – die Fähigkeit zu Liebe und Vergebung – bewahren, so scheint ein Ausweg, eine hoffnungsvolle Zukunft, denkbar. In Arabellas und Mandrykas finaler Versöhnung manifestiert sich damit nicht nur die Erfüllung eines Liebesversprechens, sondern auch der Glaube daran, dass selbst in einer fragmentierten Welt ein Neubeginn möglich ist.

Autor:

Marko Cirkovic aus Durlach

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