Magie im Graben, Horror auf der Bühne
Hänsel und Gretel an der Staatsoper Stuttgart

Karikatur auf die Hexe | Foto: Marko Cirkovic
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Die Staatsoper Stuttgart öffnete erneut ihre Pforten für eine Wiederaufnahme von Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“, einem Werk, das seit seiner Uraufführung im Jahr 1893 die Herzen von Opernliebhabern weltweit erobert hat. Dieses musikalische Märchen, basierend auf der bekannten Geschichte der Gebrüder Grimm, wurde von Humperdinck in eine Oper von außergewöhnlicher Tiefe und musikalischer Reichhaltigkeit verwandelt. Die Entstehungsgeschichte des Werkes ist ebenso charmant wie die Oper selbst: Ursprünglich als kleine Hausmusik für die Kinder seiner Schwester konzipiert, entwickelte sich „Hänsel und Gretel“ unter der Hand Humperdincks zu einer vollständigen Oper, die sowohl die komplexen Harmonien Wagners als auch die Einfachheit volkstümlicher Melodien in sich vereint.

Inhaltlich folgt die Oper der klassischen Erzählung zweier Kinder, die sich im Wald verirren und auf eine Hexe treffen, die sie in ihre Gewalt bringen will. Doch „Hänsel und Gretel“ ist weit mehr als eine einfache Märchenerzählung; es ist ein Werk voller Symbolik, das Themen wie Familienbande, Mut, und die Überwindung von Angst durch die Unschuld der Jugend aufgreift. Humperdincks Musik verleiht der Geschichte eine zusätzliche Dimension, indem sie die emotionale Landschaft der Charaktere mit Leitmotiven ausstattet, die deren innere Regungen und die dramatischen Wendungen der Handlung akustisch untermalen.

Die musikalische Sprache der Oper ist geprägt von einer Mischung aus leichten, eingängigen Melodien und komplexeren orchestralen Strukturen, die Humperdinck von seinem Mentor Wagner übernahm. Die Partitur von „Hänsel und Gretel“ ist dabei so reichhaltig und nuanciert, dass sie sowohl Kinder als auch Erwachsene gleichermaßen anzusprechen vermag.

Unter der musikalischen Leitung von Karsten Januschke verwandelte sich der Orchestergraben der Staatsoper Stuttgart in ein verzaubertes Reich, in dem Engelbert Humperdincks Musik mit einer faszinierenden Klangfülle zum Leben erwachte. Von den ersten, leicht unsicheren Tönen im Blech bis hin zu den majestätisch entfalteten Melodien offenbarte sich eine Darbietung, die in ihrer epischen Breite und emotionalen Tiefe begeisterte, ohne dabei die filigranen, lyrischen Momente zu übergehen, die mit einer besonderen Intensität glänzten.

Januschkes Dirigat zeichnete sich durch eine präzise und doch gefühlvolle Hand aus, die Humperdincks komplexe musikalische Sprache meisterhaft zum Ausdruck brachte. Es war, als ob er die Partitur nicht einfach nur interpretierte, sondern vielmehr in eine lebendige Erzählung verwandelte, in der jede Note, jede Pause, jede dynamische Wendung eine Szene, ein Gefühl, einen Hauch von Zauber malte. Das Staatsorchester Stuttgart folgte ihm auf diesem Weg mit einer Hingabe und Virtuosität, die die Luft mit Spannung und Erwartung schwängerten.

Die dynamische Bandbreite des Orchesters, von den zartesten Pianissimo-Passagen, die die Reinheit und Unschuld der Kindheit einfingen, bis hin zu den kraftvollen Fortissimo-Ausbrüchen, die die dramatischen Höhepunkte der Oper unterstrichen, war beeindruckend. Die musikalischen Leitmotive, die wie fein gesponnene Fäden das Märchen durchzogen, wurden mit einer solchen Klarheit und Emotionalität dargeboten, dass sie fast greifbar erschienen.

Besonders die sanften Klänge, in denen sich die Träume und Hoffnungen von Hänsel und Gretel widerspiegelten, berührten tief. Sie wurden mit einer Zartheit und einem Feingefühl ausgeführt, die das Herz erwärmten und die Seele streichelten. Gleichzeitig fand das Orchester in den momenten der Bedrohung und des Unheils eine klangliche Intensität, die unter die Haut ging.

Die Zusammenarbeit mit dem Kinderchor der Staatsoper Stuttgart verlieh der Aufführung eine zusätzliche Ebene der Authentizität und Unschuld, die das Werk in seiner ganzen emotionalen Bandbreite erleben ließ. Unter Januschkes Leitung wurde die Musik zu einem lebendigen Wesen, das die Zuhörer auf eine Reise voller Wunder, Gefahren und letztendlicher Erlösung mitnahm.

So entstand ein musikalisches Gemälde, reich an Farben und Schattierungen, das die unvergängliche Schönheit von Humperdincks „Hänsel und Gretel“ mit jeder Note neu erfand und eine tiefgreifende, ästhetische Erfahrung bot, die lange in Erinnerung bleiben wird.

In der stimmlichen Besetzung dieser Aufführung kristallisierten sich einige bemerkenswerte Talente heraus, die das musikalische Erlebnis eindrucksvoll prägten. Linsey Coppens in der Rolle des Hänsel und Jasper Leever als Vater entfalteten eine stimmliche Präsenz und Kraft, die sowohl für ihre Rollen als auch für die musikalische Gesamtwirkung der Oper entscheidend waren. Ihre Stimmen, voller Tiefe und Wärme, verliehen ihren Charakteren eine lebendige Authentizität und trugen maßgeblich zur emotionalen Dichte der Aufführung bei.

Martina Mikelić, die die Hexe verkörperte, bot eine Darbietung, die in ihrer stimmlichen Vielseitigkeit und ihrem dramatischen Ausdruck beeindruckte. Ihre Fähigkeit, zwischen bedrohlich-düsteren und schrill-komischen Nuancen zu wechseln, machte ihre Präsenz auf der Bühne zu einem fesselnden Erlebnis. Die stimmliche Kraft, gepaart mit ihrer Bühnenpräsenz, ließ die Figur der Hexe in all ihrer Komplexität lebendig werden und trug zu den Höhepunkten der Oper bei.

Eliza Boom in der Rolle der Gretel bot eine stimmliche Leistung, die durch ihre Klarheit und Schönheit bestach. Ihre Interpretation war von einer lyrischen Zärtlichkeit, die das unschuldige und hoffnungsvolle Wesen Gretels einfing. Obwohl ihre Stimme in den Momenten großer Ensemblepassagen und gegenüber den kräftigeren Stimmen ihrer Kollegen bisweilen an Durchsetzungskraft vermissen ließ, vermochte sie es dennoch, mit feinsinniger Emotionalität und nuancierter Ausdrucksfähigkeit zu überzeugen.

Die weiteren Ensemblemitglieder, einschließlich Catriona Smith als Mutter und Alma Ruoqi Sun in den Doppelrollen des Sandmännchens und Taumännchens, rundeten die Aufführung mit ihren Beiträgen ab und fügten sich nahtlos in das klangliche Gefüge der Oper ein. Ihre Leistungen, wenn auch weniger im Vordergrund, trugen dennoch wesentlich zur stimmlichen Vielfalt und zum emotionalen Reichtum der Inszenierung bei.

Axel Ranischs Inszenierung von „Hänsel und Gretel“ provoziert mit einer radikalen Umdeutung des klassischen Märchens zu einem dystopischen Albtraum, der weniger von märchenhafter Magie als von einer erschreckenden Vision von Gewalt, Gier und Sexismus geprägt ist. Diese Interpretation entfernt sich weit von der ursprünglichen Intention Engelbert Humperdincks und der Gebrüder Grimm und tauscht kindliche Unschuld und Erlösung gegen eine bedrückende Darstellung menschlicher Abgründe.

Besonders verstörend wirkt die Darstellung der familiären Beziehungen. Die Szene, in der die Mutter nicht etwa schläft, sondern bewusst die unangemessenen Berührungen des Vaters erduldet, stellt eine unerträgliche Misshandlung dar, die auf der Bühne nichts zu suchen hat. Diese explizite Darstellung von Gewalt und Übergriffigkeit innerhalb der Familie überschreitet eine Grenze, die in einem Stück, das traditionell auch ein sehr junges Publikum anspricht, nicht überschritten werden sollte.

Die technische Umsetzung der Inszenierung, insbesondere die Verwendung von Animationen, bleibt weit hinter den Möglichkeiten zurück, die man aus dem Jahr 2022 erwarten würde. Die als innovativ gedachten visuellen Effekte wirken dilettantisch und können die drastischen inhaltlichen Entscheidungen nicht aufwerten, sondern ziehen die Produktion qualitativ weiter nach unten.

Die omnipräsente Darstellung der Hexe durch ihre Schergen, die einen verdammt offensichtlich an die Aufseher der Netflix Serie Squid Game erinnern, bereits im Ersten Akt und die konstante Präsenz von Gewalt auf der Bühne sind zusätzliche Elemente, die bei vielen Zuschauern für Unbehagen sorgen. Dass Familien mit Kindern die Vorstellung verlassen, ist ein deutliches Zeichen dafür, dass die Inszenierung ihre Zielgruppe verfehlt. Die Verwandlung der Hexe in eine karikaturhafte Figur, die an Dolores Umbridge aus „Harry Potter“ erinnert, im späteren Verlauf, untergräbt jede ernsthafte Auseinandersetzung mit den dunkleren Themen des Stücks und wirkt fehl am Platz.

Der Höhepunkt der Geschmacklosigkeit wird erreicht, als Kinder in einen großen Schredder geworfen und zu Konfetti-Keksen verarbeitet werden – eine Darstellung, die fragwürdige ästhetische Entscheidungen trifft und ernsthaft in Frage stellt, was diese Inszenierung dem Publikum, insbesondere jungen Zuschauern, vermitteln möchte.

Trotz der starken letzten Szene, die versucht, die humanistische Botschaft und Symbolik des Märchens wieder in den Vordergrund zu rücken, bleibt der Gesamteindruck dieser Produktion durch die vorangegangenen Entscheidungen belastet. Es scheint, als hätte die Inszenierung in ihrem Bestreben, provokant und zeitgemäß zu wirken, den Kern dessen verloren, was „Hänsel und Gretel“ zu einem zeitlosen Werk macht: die Macht der Hoffnung, des Mutes und der Erlösung.

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Autor:

Marko Cirkovic aus Durlach

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