Dvořáks Märchenklänge und Mahlers Himmelsvision
Nelsons und das Gewandhausorchester im Festspielhaus

- Foto: Michael Bode , manolopress
- hochgeladen von Marko Cirkovic
Die Türen des Festspielhauses öffnen sich an diesem Abend mit Antonín Dvořáks symphonischer Dichtung „Das goldene Spinnrad“ entführt das Gewandhausorchester das Publikum unmittelbar in eine fesselnde Klangwelt. Das Werk, uraufgeführt 1896, basiert auf einer Ballade von Karel Jaromír Erben und erzählt die märchenhafte Geschichte eines goldenen Spinnrads, das mit seinem magischen Klang menschliche Schicksale miteinander verknüpft. Dass Dvořák ein Meister der orchestralen Farben ist, ist weithin bekannt – hier aber offenbart sich seine ganze Kunst in dynamischer Vielfalt, plötzlichen Kontrasten und einer liebevollen Detailarbeit, die sowohl folkloristische Elemente als auch spätromantische Klanglichkeit geschickt miteinander verwebt.
Schon mit dem Einsetzen der Streicher, die in einem belebten, fast pulsierenden Tempo anheben, entsteht jene charakteristische Leichtigkeit, die man von Dvořák kennt, nur dass Andris Nelsons sie durch eine äußerst transparente Phrasierung noch weiter akzentuiert. Er lotet das thematische Material mit einem spürbar episodischen Ansatz aus, lässt Melodielinien entstehen und wieder verwehen, um sie im nächsten Augenblick in neuem Gewand erneut aufleuchten zu lassen. Dabei führt er das Orchester mit einer Körperlichkeit, als forme er die Musik mit bloßen Händen: Ein zurückhaltender Impuls in den Crescendi, ein subtiles Heben der linken Hand zur Signalisierung feiner Tempomodifikationen – all das trägt zu einer organischen Dramaturgie bei, die den Märchencharakter dieser Tondichtung lebendig macht.
Besondere Aufmerksamkeit verdient der Konzertmeister, dessen solistische Passagen in fast kammermusikalischer Zartheit auffallen. Er drängt sich nie in den Vordergrund, behauptet sich aber jedes Mal, wenn das thematische Material ihm jenen kurzen Scheinwerfer gönnt. Die Feinabstimmung zwischen den einzelnen Sektionen erzeugt einen schimmernden, teilweise ätherischen Klangteppich entscheidende Impulse setzen.
Nelsons wirkt in diesem Moment wie ein Architekt, der das Gebäude dieser Komposition Stein für Stein aufbaut und dabei ganz genau weiß, wann es einer weiteren Stütze oder eines überraschenden Bruchs bedarf. Die Tempowechsel kommen nicht abrupt, sondern scheinen dramaturgisch unausweichlich. Wenn das Orchester zu den Höhepunkten hin aufschwillt, wird man förmlich in einen Sog gerissen, der durch einen federnden Kontrabassboden und leuchtende Streicher erst recht in den Vordergrund tritt. Und doch gelingt es Nelsons, das Ensemble nicht in heroischem Überschwang versinken zu lassen; stets bleibt ein Moment der Reflexion, der Wiederbesinnung auf die feingliedrige Struktur der Partitur.
Das furiose Finale, das in manch anderer Aufführung gerne einmal alles niedermähen würde, ist an diesem Abend eine rauschhafte, aber keineswegs lärmende Apotheose. Vielmehr breitet sich ein dichter Orchesterklang aus, der das Publikum in seinen Bann zieht. Man spürt die akribische Arbeit an motivischen Verbindungen und dem orchestralen Gesamtklang. Auch wenn die intensiven Wogen klanglich durchaus berauschend sind, verkennt Nelsons nicht die Zwischentöne. Jene Momente zarter Zurückhaltung, die vor dem großen Ausbruch liegen, werden mit traumwandlerischer Sicherheit ausgestaltet.
Und doch bleibt da ein Wermutstropfen: Die nicht voll besetzten Reihen lassen das Festspielhaus in einer unverdient kühlen Atmosphäre erscheinen. Jeder Blick auf einen leeren Sitz schmerzt wie ein ungenutzter Resonanzraum für diesen hochkarätigen Klangrausch. Man wünscht sich, dieses fulminante Finale hätte auf ein prall gefülltes Auditorium treffen können, um den Saal zum Beben zu bringen. Aber möglicherweise strahlt die Musik gerade durch diese Melancholie noch intensiver und konturiert den musikalischen Zauber umso deutlicher.
Nach der Pause senkt sich die erwartungsvolle Stille erneut wie ein feiner Schleier auf das Publikum. Mahler, so häufig gespielt und doch unendlich facettenreich, steht nun mit seiner 4. Sinfonie in G-Dur auf dem Programm. Ein Werk, das zwar weit weniger monumentale Züge aufweist als seine großen Sinfonien oder die kolossale „Auferstehungs-Sinfonie“, aber dennoch voller emotionaler Tiefgründigkeit und Rafinesse steckt. Die 4. Sinfonie, entstanden zwischen 1899 und 1901, ist von einem scheinbar naiven, fast volksliedhaften Ton geprägt, der jedoch immer wieder von leisen Anklängen an existenzielle Fragen durchbrochen wird. Im Finale wartet das Sopransolo auf einen Text aus der Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“, in dem das „himmlische Leben“ besungen wird – eine Welt voller kindlicher Unschuld und frohen Glaubens an ein paradiesisches Jenseits.
Nelsons scheint sich dieses Spannungsfelds zwischen Leichtigkeit und tiefer Transzendenz an diesem Abend besonders bewusst zu sein. Schon im ersten Satz, der mit den hellen „Glockenschlägen“ und der tänzerischen Streicherfigur einsetzt, spürt man einen Ansatz, der mit extremer Genauigkeit auf die kleinen dynamischen Schattierungen achtet. Der Dirigent wählt dabei bewusst ein zügiges, dennoch elastisches Tempo, das dem Klangbild eine leichte Spritzigkeit verleiht. Wenn die Hörner sich mit charakteristischem Glissando-Effekt melden und die Holzbläser verspielte Nebenmotive ausführen, entsteht eine orchestrale Konversation, in der man die thematischen Fäden fast visuell nachverfolgen kann.
Im zweiten Satz, der so oft als verschmitzt-groteske Tanzbewegung gedeutet wird, setzt sich dieser differenzierte Detailreichtum fort. Mahler hat hier dem Soloviolinisten (in alter Tradition des „Freund Hein“-Scherzos) eine Violine in scordatura-Stimmung zugedacht, deren Klang etwas spröder und fremdartiger erscheint als der jener regulär gestimmten Violinen. An diesem Abend interpretiert der Konzertmeister diese Passage mit eindrucksvoller Verve: Er macht sich die leicht rauen Klangfarben zunutze und kontrastiert damit die träumerische, beinahe drollige Orchesterbegleitung. Das Resultat ist eine klangliche Palette, die den Zuhörer hin- und herwirft zwischen tändelnder Heiterkeit und unterschwelliger Unheimlichkeit. Nelsons hält diesen Balanceakt souverän zusammen, indem er die rhythmischen Akzente präzise setzt und auf eine filigrane Durchhörbarkeit der einzelnen Instrumentengruppen achtet. Oboen und Klarinetten zwitschern teils spottend, teils lieblich, während die Harfe diskrete, fast Schläge in die Zwischenspiele streut und so den märchenhaften Charakter des Satzes unterstreicht.
Und dann ist da dieser dritte Satz, in dem die gesamte Ambivalenz zwischen Licht und Dunkelheit liegt. Gerade hier offenbart sich, wie die außergewöhnliche Qualität des Orchesters und die Gestaltungskunst von Andris Nelsons in einer symbiotischen Form zusammenfinden. Hier breitet Mahler eine seelenvolle Klangsphäre aus, in der sich Licht und Dunkelheit, Resignation und stille Hoffnung umkreisen. Zunächst schwebt eine sanft atmende Melodie in den Streichern, von zarten Einwürfen der Bläser umspielt. Das Thema beginnt in fast pastoraler Ruhe, ehe es sich in immer stärkerer Intensität aufbaut und zu einem mächtigen Höhepunkt wächst. Diese orchestrale Eruption, die in ihrer affektgeladenen Dichte , wird von Nelsons mustergültig vorbereitet. Aus einem verhaltenen Pianissimo erhebt sich langsam eine konzentrierte Steigerung, in der das volle Klangvolumen des Orchesters erst zaghaft angedeutet, dann strahlend offenbart wird. Jene Momente, in denen das Blech in feierlicher Einmütigkeit aufleuchtet, scheinen wie ein kurzer, blendender Sonnenstrahl in eine ansonsten dunkle Landschaft. Wenn schließlich der große Höhepunkt wieder in sich zusammensinkt und die Musik zurück in sanftere Bahnen gleitet, bleibt ein anrührender Nachhall, ein Nachschwingen dieser ungeheuren Energie, die das Publikum in gespannte Andacht versetzt.
Der Übergang in den vierten Satz, in dem das Sopransolo mit der Textzeile „Wir genießen die himmlischen Freuden“ einsetzt, wird von Nelsons so organisch gestaltet, dass man meint, der Gesang erblühe direkt aus den zarten Streichern. Christiane Karg tritt mit jener natürlich funkelnden Klarheit ihres Timbres hervor, die sie zu einer gefragten Mahler-Interpretin macht. Ihre Stimme, hell und doch mit einer feinen, warmen Substanz im Kern, formt die Phrasen mit liebevoller Sorgfalt. Dabei verschmilzt sie mühelos mit den flirrenden Begleitfiguren des Orchesters, lässt den Text zu keinem Zeitpunkt in manieristische Gefälligkeit abgleiten, sondern verleiht ihm Bedeutungsschwere und Innigkeit gleichermaßen. Besonders bestechend ist ihre Fähigkeit, die Zwischentöne im Wortlaut des „Wunderhorn“-Textes herauszuarbeiten: Da sind die Bilder des himmlischen Festmahls, die spielerisch-sinnliche Naturbetrachtung, aber auch jene leise Trauer über die Vergänglichkeit, die Mahler immer in seine sinfonischen Aussagen einwebt. Karg verbindet Text und Musik auf einer Ebene, die tief berührt, weil sie eine ungekünstelte, doch hochintensive Interpretation anbietet.
Als die letzten Töne dieser Sinfonie verklingen, gedehnt durch Nelsons‘ feines Gespür für das Phrasenende, scheint die Zeit stillzustehen. Ein flüchtiger Augenblick der Stille – geschätzt an die zwanzig Sekunden, in denen niemand zu atmen wagt oder zu klatschen beginnt – erfüllt den Saal mit einer eigentümlichen Ergriffenheit. Erst dann erhebt sich stürmischer Applaus, der rasch zu Ovationen anwächst. Jene Momente, in denen sich Karg und das Orchester verbeugen, werden von nicht enden wollenden Bravorufen begleitet. Undris Nelsons, sichtlich bewegt, lächelt dem Publikum dankbar zu, fast so, als wolle er jene unbesetzten Sitzreihen versöhnen, die in einer gerechten Welt mit fasziniert lauschenden Ohren gefüllt wären.
Mögen die Stühle auch nicht lückenlos besetzt gewesen sein, in dieser Musik fand sich jene Vollständigkeit, die nur selten erreicht wird, wenn Künstler und Publikum sich in gegenseitigem Vertrauen begegnen. Und so bleibt nach gut zwei Stunden Musik ein Nachhall zurück, der nicht so bald verklingen wird. Man geht hinaus in die Dunkelheit des Abends, trägt aber eine strahlende Erinnerung mit sich – an ein goldenes Spinnrad, das die Fäden wunderbarer Klänge spann, und an eine sinfonische Reise in jene himmlischen Welten, in denen die Freuden des Lebens ebenso schön wie rätselhaft sind.
Autor:Marko Cirkovic aus Durlach |
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