Kaufhaus der Illusionen
Salome an der Deutschen Oper Berlin

Foto: Monika Rittershaus

Die Zuschauer traten an diesem Abend in der Deutschen Oper Berlin in eine Welt ein, die auf den ersten Blick so gar nicht an den biblischen Palast des Herodes erinnert: Stattdessen ein altmodisches Kaufhaus, staubig und bieder, mit einem Hauch von Morbidität in den Ecken der Maßkonfektionsabteilung. Doch genau in diesem Setting entspinnt sich das beklemmende Drama von „Salome“ – eine surreale Szenerie, in der Puppen immer wieder zum Leben erwachen, ein waberndes Zwischenreich aus Traum und Wirklichkeit entsteht und uns die Regie von Claus Guth eindringlich in die psychischen Abgründe ihrer Figuren zieht.

Gleichwohl liegt der Kern von „Salome“ nicht nur im Exzess der Bilder, sondern in dem monumentalen, schonungslos brutalem Orchesterklang. Diese Oper ist eine Tour de Force des musikalischen Ausdrucks: Die Partitur verlangt nach allumfassender Glut, einem tosenden Orchester, das die Seelenregungen seiner Protagonisten in Klanglandschaften malt, die zwischen sinnlicher Schönheit und klanglicher Gewalt changieren. Man könnte sagen: „Salome“ ist wie ein Rauschzustand, in dem die Musik dramatische Täler und unheimliche Höhepunkte aufbaut, um uns sogleich wieder in nachtschwarze Abgründe zu stürzen. Nichts Geringeres als der ganze Kosmos der menschlichen Begierden und der daraus resultierenden Verwerfungen spiegelt sich in Strauss’ Partitur.

Umso verwunderlicher, dass die musikalische Leitung von Keri-Lynn Wilson an diesem Abend genau jene schmerzvolle Wucht so zurücknahm. Wo man auf wahnsinnige Eruptionen hoffte, erhielt man gesittete Zurückhaltung. Statt dramatischer Extreme – die Richard Strauss selbstbewusst in flammenden Dissonanzen und orchestralem Furor komponiert hat – entfaltete sich ein geradezu kultiviertes, glattes Klangbild, dem vieles von der rohen Brutalität fehlte. Es war, als wolle man den Schrecken bändigen und eine versöhnlichere, harmlosere Salome entwerfen: nicht nur eine handwerkliche, sondern fast schon eine pädagogische Zurückhaltung, die der expressiven Wucht dieser Partitur entgegenwirkt. Zwar spielte das Orchester der Deutschen Oper Berlin technisch hochklassig, präzise und mit makelloser Intonation, doch fehlte es ihm an jenem Abgrund, an jenem rauschhaften Taumel, der diese Oper so einzigartig macht. Selbst der berühmte „Tanz der sieben Schleier“ – hier in eine surreale, puppenhafte Tanzszene verwandelt – wirkte seltsam beiläufig und verlor seine magnetische Faszination.

Erst im Finale blitzte jene orchestrale Urgewalt kurz auf, bei der man das Gefühl bekam, das Orchester wolle sich endlich aus seinen Fesseln befreien. Ein wahrhaft infernalisches Schlussbild, das immerhin für einen Moment die vergessen geglaubte Intensität der Strauss’schen Partitur heraufbeschwor – wie ein urplötzlich losbrechender Vulkan, der sich zuvor mühsam zurückhalten musste. Doch dann kam das so schlagartig und unvermittelt, dass man unweigerlich an die verschenkten Augenblicke in den vorangegangenen hundert Minuten dachte.

Claus Guth versetzt das Geschehen in die kulissenhafte Tristesse eines Kaufhauses, dessen Schaufensterpuppen mehr Persönlichkeit ausstrahlen als die zuvor erahnbare Starre. Es ist eine Welt voller Verwandlungen, in der Personen zu Puppen erstarren und Puppen zu Menschen werden; ein halluzinatorisches Spiel, das bestens zu den manischen und traumatischen Aspekten von Salomes Innenleben passt. Immer wieder brechen Flashbacks, albtraumartige Sequenzen oder verzerrte Erinnerungsfragmente in das Geschehen ein. Diese psychologische Übersteigerung verdeutlicht, wie fragil die Figuren doch sind und wie dünn das Eis, auf dem sie ihre Begierden, Machtgelüste und Ängste inszenieren. So spürt man förmlich die kühle Luft in dieser „Maßkonfektionsabteilung“, die mitnichten elegant, sondern bewusst schmucklos und bedrückend wirkt.

Gerade Herodes und Salome agieren hier in einer Beziehung, die einerseits von latenter und übergriffiger Sexualisierung geprägt ist, andererseits aber durch das surreale Setting immer wieder verfremdet wird. Man erkennt trotz aller Groteske, welche Dämonen diese Familie verfolgen. Dass man sich als Zuschauer gelegentlich fühlt, als schaue man in einen düsteren Traum, ist offenkundig Guths Absicht – und sie geht über weite Strecken meisterlich auf.

Thomas Blondelle als Herodes wirkte an diesem Abend merklich angeschlagen, was zu Beginn mittels einer Ansage angekündigt wurde. Umso erstaunlicher, mit welcher stimmlichen Robustheit und Spielfreude er dennoch seine Rolle meistert. Blondelle füllt diese zwielichtige Figur mit einer beinah unheimlichen aber auch komischen Präsenz: ein Mann, der zögerlich und dennoch triebhaft, feige und doch machtsüchtig ist. Seine Herodias, verkörpert von Evelyn Herlitzius, belegt mit funkelnder Attacke und jener angriffslustigen Deklamation, warum sie für solche dramatischen Partien prädestiniert ist. Auch wenn ihre Stimme vielleicht nicht mehr die jugendliche Frische früherer Jahre aufweist, ist sie genau für diese Rolle wie geschaffen: schneidend in der Höhe, durchdringend in der Diktion, unnachgiebig in der Figurengestaltung.

In der Titelpartie beeindruckte Olesya Golovneva als Salome vor allem im Schlussmonolog. Zunächst wirkte es, als kämpfe sie mit dem Fach – die Partie ist eine der anspruchsvollsten des dramatischen Sopranrepertoires. Doch dann, je mehr sich Salome aus ihrem beängstigenden Umfeld in ihre eigene Gedankenwelt zurückzieht, desto stärker scheint Golovneva stimmlich aufzublühen. Gerade der finale Ausbruch ihres Verlangens, der morbide Jubel inmitten des Wahnsinns, demonstriert eine beklemmende Kraft. Hier verbindet sich darstellerische Intensität mit jener hochdramatischen Spitzenleistung, die „Salome“ zum Opernthriller schlechthin macht.

Narraboth, gesungen von Kieran Carrel, überzeugt als jener sehnsuchtsvolle junge Mann, dessen Liebe zu Salome unweigerlich in die Katastrophe führt. Carrel verleiht ihm eine anrührende Zartheit, mit goldschimmerndem Timbre und einer emotionalen Unbedingtheit, die tragisch enden muss. Und auch der Jochanaan von Jordan Shanahan brachte einen stimmschönen Bassbariton ins Spiel, der zugleich weltverloren und unerschütterlich wirkt – ein Prophet, dem im Halbdunkel der Kaufhaus-Katakomben eine prophetische Unnahbarkeit anhaftet.

Nicht zu vergessen sind die übrigen Ensemblemitglieder, die teils in Doppelrollen agierten und das gespenstische Kaufhauspanorama mit Leben (und Tod) füllen: Stephanie Wake-Edwards (Page), die fünf Juden (Chance Jonas-O’Toole, Thomas Cilluffo, Jörg Schörner, Burkhard Ulrich, Gerard Farreras), die beiden Nazarener (Joel Allison und Geon Kim), die Soldaten (Andrew Harris, Tobias Kehrer), der Cappadocier (Stephen Marsh) und der Sklave (erneut Chance Jonas-O’Toole). Alle fügten sich homogen in das Gesamtkonzept ein, demonstrierten vorbildliche Textverständlichkeit und charakteristische Rollenprofile – ohne allerdings zu stark in den Vordergrund zu treten. Sie alle trugen das ihre dazu bei, die groteske Stimmung eines Theaters im Theater oder eben eines Kaufhauses im Ausnahmezustand zu beschwören.

Die Frage, warum der Abend trotz toller Inszenierung, starkem Ensemble und einem renommierten Opernorchester nicht völlig aufging, beantwortet sich aus der Diskrepanz zwischen Bild und Klang. Claus Guth liefert ein atmosphärisch dichtes, ja beinahe verstörendes Setting, das das zerrissene Innenleben Salomes und ihrer Familie wunderbar unterstreicht. Doch die musikalische Umsetzung unter Keri-Lynn Wilson kam über die Grundsolide nicht hinaus. Eine Partitur, die nach Exzessen und radikalem Ausdruck verlangt, wirkte weitgehend gedämpft. Was an monumentaler Wucht hier hätte aufrauschen können, blieb merkwürdig zahm. Vielleicht war es eine bewusste künstlerische Entscheidung, die nur gelegentlich – vor allem beim brachialen Schluss – ihre Fesseln löste, doch über weite Strecken tat das dem Nervenkitzel dieser Oper keinen Gefallen.

So sah man großartige Bilder, starke darstellerische Leistungen und erlebte ein Orchester, das offensichtlich brillante Fähigkeiten hat. Und dennoch hätte man nach der Vorstellung gut einen doppelten Espresso gebrauchen können, um nach der allzu geruhsamen musikalischen Darbietung wieder wach zu werden. „Salome“ ist in ihrem Innersten eine aufwühlende Erfahrung, eine schockierende Odyssee durchs Menschliche und Unmenschliche. Ein bisschen mehr Mut zur klanglichen Gefahr und Drastik hätte dieser so drastischen Inszenierung gutgetan. Letztlich bleibt sie eine spannende und theatralisch reiche, aber leider musikalisch entschärfte Reise in die Abgründe von Salomes zerrissener Seele. Man konnte für einen Moment erahnen, welches Inferno Richard Strauss einst entfesseln wollte – doch die Zündschnur wurde an diesem Abend zu oft nicht entflammt.

Autor:

Marko Cirkovic aus Durlach

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