Konzertant im Geist, monumental im Klang
Tézier singt Simon Boccanegra in Berlin

- Foto: Jenny Bohse
- hochgeladen von Marko Cirkovic
Giuseppe Verdis „Simon Boccanegra“ ist seit jeher ein Werk, das sowohl durch seine politisch aufgeladene Handlung als auch durch seine zutiefst menschlichen Konflikte fasziniert. Die "Neufassung" aus dem Jahr 1881 – mit Ergänzungen durch Arrigo Boito – hat dem ursprünglichen Libretto von Francesco Maria Piave und Giuseppe Montanelli mehr seelische Tiefenschärfe und dramatische Geschlossenheit verliehen. Die Geschichte um den Dogen von Genua, seine ambivalenten Feinde und Verbündeten, seine ungeahnte Wiedervereinigung mit der totgeglaubten Tochter sowie das politische Gerangel der verfeindeten Parteien entfaltet sich in dieser Produktion an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin unter der Regie von Federico Tiezzi in einem zugleich klassischen wie edlen Gewand.
Bereits die historischen Hintergründe des Werks sind bedeutsam, um den einzigartigen Klangkosmos des reiferen Verdi zu verstehen: „Simon Boccanegra“ erlebte seine Uraufführung 1857 in Venedig und stieß zunächst auf ein eher verhaltenes Echo. Erst durch die tiefgreifende Revision im Jahr 1881, an der vor allem Arrigo Boito mitwirkte – später Verdis Librettist für „Otello“ und „Falstaff“ –, erhielt das Stück jene dramaturgische Balance, die es heute zu einem Meilenstein in Verdis Schaffen macht. Boito verlieh den Figuren mehr psychologische Schattierungen und sorgte gleichzeitig für eine straffere dramaturgische Struktur. Diesem Hintergrund wird in der Berliner Inszenierung insofern Rechnung getragen, als Tiezzi sich auf traditionelle Bildsprache verlässt: Kostüme (Giovanna Buzzi) und Bühnenbild (Maurizio Balò) greifen auf historische Stilelemente zurück, ohne jedoch in musealer Erstarrung zu verharren.
Dennoch entsteht im Verlauf des Abends mitunter der Eindruck einer konzertanten Aura. Die Regie von Federico Tiezzi setzt auf beinahe nicht vorhandene Personenführung und ästhetisch ansprechende Tableaus, die eher den Charakter bildhafter Gemälde als einer konventionellen Opernhandlung vermitteln. Dass hier keine überbordenden Regieeinfälle oder epochalen Interpretationen auf der Bühne lodern, schadet dem Werk jedoch keineswegs – ganz im Gegenteil. So bleibt der Fokus voll und ganz auf dem Musikalischen, und das Ensemble sowie die Staatskapelle Berlin können dadurch ihre ganze interpretatorische Strahlkraft entfalten.
Unter der Leitung von Eun Sun Kim offenbart das Orchester einen bemerkenswert differenzierten Klang. Kim wählt teils extreme Tempi, schlägt immer wieder energische Attacken an und scheut auch vor dramatischen Steigerungen mit rasantem Crescendo nicht zurück. Zwar kann man an manchen Stellen die Frage stellen, ob sich die Dirigentin zuweilen zu stark auf die Kraftentfaltung konzentriert und dabei den lyrischen Unterbau des Werks etwas vernachlässigt. Insbesondere in den ensemblehaften Passagen des zweiten Akts scheint mitunter das feine Substrat der Partitur leicht aus dem Blick zu geraten, und das charakteristische Legato, das Verdis reifer Stil erfordert, gerät zuweilen in Bedrängnis. Doch überwiegt letztlich die Spannung, die Kim im Orchesterraum aufbaut. Sie lässt in den leiseren Passagen ein elastisches Rubato zu, pflegt eine gewisse Geschmeidigkeit im Klangbild und kann so auch die zarten Nuancen jener Momente auskosten, in denen Verdi poetische Reflexionen der Figuren zulässt.
In dieser durchaus energetischen Interpretation zeigt sich besonders, wie eminent wichtig ein ausgewogener und vor allem stimmlich souveräner Cast ist. Denn die Sängerinnen und Sänger müssen sich nicht nur an den orchestralen Aufschwüngen messen, sondern auch die sensiblen Linien und die subtilen Farben der Partitur zum Klingen bringen. Und hier glänzt diese Produktion in nahezu perfekter Besetzung:
Allen voran überzeugt Ludovic Tézier in der Titelpartie als Simon Boccanegra. Sein samtiges, zugleich hell und dunkel timbriertes Baritonregister vereint eine fulminante Durchschlagskraft in den dramatischen Ausbrüchen mit berückend weichen, lyrischen Phrasen. Téziers Vortrag ist von beeindruckender technischer Sicherheit geprägt, sein Legato fließt geschmeidig, und zugleich beherrscht er eine Plastizität der Deklamation, die die politischen und seelischen Konflikte Boccanegras glaubhaft zu einer Einheit verschmilzt. Wenn Verdi in den Schlüsselszenen – etwa in Simons Begegnung mit Fiesco oder später in der ergreifenden Sterbeszene – die gesamte emotional-moralische Tragweite offenlegt, dann lässt Tézier jede Nuance hörbar werden.
Die Partie des Gabriele Adorno, jenes adligen Aufrührers und Geliebten von Amelia, ist in dieser Produktion mit Fabio Sartori besetzt. Als Tenorpartie verlangt sie nach jugendlicher Strahlkraft, die sich jedoch auch in den dramatischen Auseinandersetzungen gegen die übrigen Stimmen behaupten muss. Sartori zeigt eine bemerkenswerte Linienführung, sein Timbre klingt angenehm rund, zugleich verfügt er über metallische Höhe. Die Spitzentöne wirken keineswegs forciert, auch wenn man in einigen dramatischen Höhepunkten eine leichte Anspannung spüren mag. Dennoch liefert Sartori genau jene Mischung aus Leidenschaft und heldischem Gestus, die Gabriele Adorno als Rolle kennzeichnet.
Bei den weiblichen Hauptrollen übernimmt Elena Stikhina die Partie der Maria Boccanegra, die unter dem Decknamen Amelia Grimaldi auftritt. Stikhinas Sopran überzeugt durch eine faszinierende Klarheit in den Höhen, gepaart mit einer farbenreichen Mittellage. Eine wohldosierte Vibratotechnik verleiht ihrer Stimme einen charakteristischen, zugleich warmen und leuchtenden Klang. Vor allem die große Erkennungsszene, in der Vater und Tochter einander schließlich wiederfinden, wird zum gesanglichen Höhepunkt des Abends: Stikhina formt die weit ausgesungenen Melodiebögen mit nobler, fast belcantistischer Eleganz, die jedoch nie ins veristische Pathos übergleitet.
Einen wichtigen Gegenpol zu Boccanegra bildet in jeder Aufführung der finstere Paolo, hier verkörpert von Alfredo Daza. Daza besitzt einen robusten Bariton, der die Bitterkeit und den fanatischen Machthunger der Figur klar herausschält. Dabei gelingen ihm packende Ausbrüche, vor allem wenn er zwischen Wut, Verzweiflung und ironischer Verbitterung changiert. Trotz der manchmal abrupten Tempowechsel durch Eun Sun Kim wahrt er eine bestechende Intensität in seiner Gesangslinie.
Für die Rolle des Jacopo Fiesco konnte die Staatsoper den ausdrucksstarken Marko Mimica gewinnen. Seine Interpretation kommt mit bestechender vokaler Wucht, beeindruckender Tiefe und jener elegischen Schwermut, die die Figur des alten Gegenspielers Boccanegras auszeichnet. Mimicas Bass erweist sich zugleich als erstaunlich flexibel: Auch in den lyrischen Momenten kehrt eine berührende Weichheit in den Stimmklang ein. Dabei bleibt die Diktion stets klar und die Stimmführung souverän.
Auch das übrige Ensemble fügt sich organisch in das musikalische Gesamtgefüge ein. Eine besondere Erwähnung verdient der Staatsopernchor, der in „Simon Boccanegra“ immer wieder die Rolle des aufgebrachten Volkes in Genua übernimmt. Hier ist Präzision gefragt, und hier glänzt die Berliner Staatsoper einmal mehr: Die Chöre singen mit äußerst kontrollierter Intonation, druckvoller Kraft und einem homogenen Klangbild, das das politische Vexierspiel auf der Bühne glaubhaft kontrastiert. Gerade in jenen Massenszenen, in denen sich die Volksmenge gegen den Dogen aufbringt oder sich zu großen Appellen versammelt, bildet das Chorkollektiv ein schallendes Fundament, das die Szenerie maßgeblich mitprägt.
Der Regie von Federico Tiezzi könnte man vorwerfen, dass sie durch die strikte Orientierung an klassischen Inszenierungsformen und reduzierten Szenenwechseln stellenweise den Eindruck erweckt, es handle sich um eine lediglich szenisch angereicherte konzertante Aufführung. Dennoch entfalten das feine Lichtdesign von A. J. Weissbard, die nüchtern-eleganten Projektionen von Studio Azzurro und die stilvollen Kostüme eine kohärente Bildsprache, die in ihrer formalen Strenge durchaus eigenen Reiz besitzt. Wer spektakuläre Szenenlösungen sucht, wird hier wenig finden – doch genau darin liegt auch ein heimlicher Zauber dieser Produktion: Die musikalische Substanz dringt umso klarer zum Publikum durch.
Dramaturgisch könnte man bei „Simon Boccanegra“ lange über Themen wie menschliche Einsamkeit in der Politik, die Ironie von Machtstreben und familiärer Wiedervereinigung oder den Widerhall historischer Konflikte reflektieren. Die Aufführung in Berlin zeigt, wie stark Verdis Partitur und Boitos verfeinertes Libretto auch ohne ausgefeilte Regieinterpretation sprechen können. Tatsächlich gewinnt man den Eindruck, dass die musikalische Umsetzung hier als Hauptträger der dramatischen Aussage fungiert: Die großen konfrontativen Ensemble-Szenen und die intimeren Dialogpassagen – beispielsweise zwischen Simon und Fiesco oder Amelia und Gabriele – bilden die erzählerische Seele des Abends.
Gerade weil Tiezzi auf eine weitgehend realistische Darstellung und eine gediegen-klassische Optik setzt, kann man den Fokus auf das Verhältnis von Instrumentalklang und Vokallinie legen. Das Orchester – die Staatskapelle Berlin – breitet unter Eun Sun Kims manchmal kühner, manchmal rücksichtsloser Führung ein schillerndes Spektrum an Klangfarben aus, das den dramatischen Puls stets hochhält. Zwar könnte man die fehlenden Zwischentöne oder die zuweilen raue Übergangsdramaturgie in den Temposchwankungen kritisieren, doch bleibt letztlich ein gewaltiger musikalischer Sog bestehen, der das Publikum bis zum leisen Atemzug in Simons Sterbeszene fesselt.
So lässt sich sagen: Diese „Simon Boccanegra“-Produktion an der Staatsoper Unter den Linden ist eine Aufführung, die das große Können des Ensembles, das feine Ohr des Orchesters und die stimmliche Brillanz der Solistinnen und Solisten in den Vordergrund stellt. Die szenische Zurückhaltung ist dabei keineswegs als Mangel zu werten, denn wer Oper wie ein kostbares Juwel betrachtet, das lieber in klanglichen Facetten statt in exzessiver Bühnenaktion leuchtet, der findet hier ein stimmiges Kunstwerk.
Am Ende belohnt das Publikum die Leistung der Sängerinnen und Sänger wie auch das Orchester mit ausgiebigem Applaus, zu Recht ehrend für ein Ensemble, das sich mit Leidenschaft und Professionalität auf Verdis reifes Drama einlässt. Wer also eine ästhetisch anspruchsvolle, bildschön komponierte und musikalisch fesselnde Aufführung erleben möchte, ist bei diesem „Simon Boccanegra“ in Berlin bestens aufgehoben – ohne dass er oder sie überdeutlich konfrontiert wird mit Regiekonzepten, die das Politische und Familiäre neu deuten. Man genießt vielmehr eine Darbietung, die sich im Grenzbereich zwischen prachtvoller Tradition und beinahe konzertantem Vortrag bewegt. Und wie sich gerade hier zeigt: Mehr braucht es tatsächlich nicht, um die eindringliche Größe dieses Verdi-Meisterwerks zu offenbaren.
Autor:Marko Cirkovic aus Durlach |
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