Autorin Tina Seel aus Edesheim im Gespräch: „Ich wollte eigentlich nie einen Krimi schreiben"

Autorin Tina Seel mit ihrem neusten Buch Foto: Tina Seel | Foto: Tina Seel
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Edesheim. Erinnerungen an einen bestialischen Mord in der Südpfalz an Heiligabend 1974 und die fiktive Entdeckung einer Leiche im Jahr 1975 bilden den Kern der fesselnden Romane von Tina Seel. Geboren 1965 in Landau und aufgewachsen in Edesheim, war sie zwei Jahrzehnte lang Mitinhaberin einer Werbeagentur in Karlsruhe, bevor sie 2007 nach Berlin zog. Im Interview gibt Tina Seel einen Einblick, wie sie – entgegen ihrer eigenen Lesegewohnheiten – zur Verfasserin von Kriminalromanen wurde und warum sie ihre Heimat und das Lebensgefühl der 70er-Jahre in der Pfalz als Bühne für ihre Geschichten gewählt hat.

von Katharina Schmitt

???: Sie wollten keinen Kriminalroman schreiben und haben dennoch schon zwei geschrieben. Wie kam es dazu? Und: Lesen Sie selbst gerne Krimis?
Tina Seel: Früher habe ich gerne Krimis gelesen, heute eigentlich gar nicht mehr. Heute mag lieber Romane, wie zum Beispiel „Mittagsstunde“ von Dörthe Hansen oder „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“ von Joachim Meyerhoff.

Mein erstes Buch „Der Tod der dreckigen Anna“ basiert auf einer wahren Begebenheit. Einem bestialischen Mord, der sich 1974 in meiner direkten Nachbarschaft zugetragen hat – ein echter True Crime, ich war damals 9 Jahre alt. Die Geschichte dahinter hat mich gereizt und so wurde es ein Kriminalroman, ob ich das wollte oder nicht. Zwangsläufig braucht man natürlich einen Kommissar und sein Team, man ist automatisch an einem bestimmten Ort und in einer bestimmten Zeit. In diesem Rahmen kann man sich dann bewegen und die Richtung bestimmen. Und da ich kein Fan von Krimis bin, habe ich auf meine Art versucht, dem ganzen zumindest einen anderen Anstrich zu geben, als das, was man so kennt.

Die Konsequenz aus einem ersten Kriminalroman ist dann ein Zweiter. Denn, wenn einem der Erzählstil, die Sprache, die Art der Geschichte, die Zeit, in der sie spielt und all das gefällt, dann will man eigentlich – das kennen wir von uns selbst – beim nächsten Buch wieder sowas ähnliches haben. So schafft man mit dem ersten Buch die Grundlage für das Nächste. Man muss dann nicht unbedingt an ein und demselben Ort bleiben, aber in der Region, in der Zeit, im Stil, und natürlich nimmt man den Kommissar und sein Team wieder mit und knüpft an.

???: Sie sagen, ihr Buch sei anders als herkömmliche Krimis. Was macht Ihren Kriminalroman so anders?
Seel: Ich will die Leser in eine Geschichte förmlich hineinziehen. Ich will sie unterhalten, ich will sie irgendwie in die Irre führen, vor allem will ich aber ihre Fantasie anregen. Man sagt, ich habe ein Talent, Charaktere und Kulissen so zu beschreiben und zu entwickeln, dass man alles direkt vor sich sieht und spürt. Bei meinem ersten Buch geht es viel um Gerüche, auch die sollen sich im Kopf entfalten obwohl sie gar nicht da sind. Auch geht man nicht, wie meist üblich, mit dem Kommissar auf die Suche nach dem Mörder. Man kennt ihn von Anfang an, ist an seiner Seite, Das ist nicht minder spannend.

In meinem neuen Buch „Der sonderbare Fall der Rosi Brucker“ versuche ich – neben dem eigentlichen Fall – die Leser für die Zeit (die Siebziger) und den damaligen, aus heutiger Sicht krassen und derben Umgang mit Randfiguren zu sensibilisieren. Jene, die vielleicht aufgrund einer optischen Fehlbarkeit außerhalb der Gesellschaft stehen, die entweder ignoriert oder gar gehänselt wurden. Auch geht es um den damaligen Umgang mit geistig Behinderten, die es ja auch in jedem Dorf gab. Es war eine Zeit, die stark von Pragmatismus geprägt war. Wo sich keiner groß Gedanken gemacht hat, wo jene, die anders waren, einfach so mitliefen. Heute bewegen wir uns in eine völlig andere Richtung, was ja gut ist. Heute habe wir Inklusion und schaffen, wo es nur geht, behinderten gerechte Bedingungen. Damals gab es nichts dergleichen. Es ist interessant, das im Rahmen einer Geschichte mal deutlich zu machen, wie es damals war… Es geht also vordergründig nicht nur darum, wer jetzt die Rosi Brucker ermordet hat, sondern um die Fallstricke dörflichen Zusammenseins und typische Charaktere, die sich in ihren eigenen Unzulänglichkeiten verstolpern. Am Schluss hat man das Gefühl, die einzig normalen sind die Unnormalen.

Wenn man also gerne in die Siebziger eintaucht und eben nicht den klassischen Kriminalroman sucht, sondern ein Faible für Milieustudien, reizvolle Charaktere und darüber hinaus eine Vorliebe für einen sehr schwarzen Humor hat, dem wird die Geschichte gefallen.

???: Waren Sie direkt von Beginn an ein Profi? Was sollte man ihrer Meinung nach mitbringen, um ein Buch zu schreiben?
Seel: Ich war ganz und gar kein Profi. Als ich 2010 gedacht habe, ich bin fertig mit meinem ersten Buch, habe ich es an den Ullstein Verlag geschickt. Dann hatte sich eine Lektorin gemeldet. Sie sagte mir, dass sie meinen Erzählstil sehr mag, aber von der Dramaturgie her würde das Buch noch überhaupt nicht funktionieren. Das war der Moment, wo ich angefangen habe, zu lernen, wie das geht und worauf es ankommt. Ich habe mir Hilfe geholt bei jemandem, die sich auskennt. Ingrid Kaech, sie bringt Menschen das Schreiben bei. Damals hatte sie das sogar mit Insassen der Justizvollzuganstalt Berlin Tegel gemacht. Zusammen haben wir an meinem Buch gearbeitet und sie hat mir wichtige Impulse gegeben und gezeigt, wie ich aus dem, was ich habe, etwas mache, was einen Spanungsbogen hat und funktioniert.

Wer ein Buch schreiben will, sollte natürlich ein gewisses Talent zum Schreiben mitbringen. Nicht jeder, der rhetorisch überzeugt, der eloquent ist und sich sprachlich gut ausdrücken kann, automatisch gut schreiben. Das ist oft etwas völlig anderes. Für das allererste Buch braucht man eigentlich nur Lust zu schreiben und auszuprobieren. Ich bin auch so ein Typ, der einfach loslegt, statt mich mit der Theorie und Methodik zu beschäftigen. Ich fange da an, wo ich eine Idee habe und der Rest ist zunächst einmal ein ziemlich chaotischer Prozess. Man sagt, bei den Autoren gibt es Architekten und Gärtner. Die Architekten konstruieren ihre Geschichte auf dem Papier komplett durch, dann fangen an sie zu schreiben. Die Gärtner hingegen, die fangen irgendwo an, werfen ihren Samen aus, gehen mit ihren Figuren spazieren und gucken, was da so entsteht. Das wird dann irgendwann zu einer Geschichte zusammengefügt. Das ist zwar ein wesentlich uneffektiveres Schreiben und sehr zeitintensiv, weil man immer wieder von vorne anfängt und neu sortiert bis es stimmig ist, aber auf diese Weise lese ich eigentlich beim Schreiben mein eigenes Buch, denn auch ich weiß oft nicht, was die Person als nächstes macht.

???: Das erste Buch spielt in den 70er-Jahren und auch ihr neustes Werk bleibt in diesem Jahrzehnt. Wie kam es zu den 70er-Jahren?
Seel: Ich habe direkt gemerkt, dass es mir total gefällt, gedanklich in diese Zeit einzutauchen. 1974 in der Pfalz, in dem Dorf, wo ich aufgewachsen bin. Das ist in meinem Kopf noch sehr präsent. Das war gerade aus heutiger Sicht eine ganz besondere Zeit. Komplett entschleunigt. Wir Kinder haben meist auf der Straße gespielt - grenzenlose Freiheit, wenn man so will. Es gab kein Handy, nur drei Fernsehprogramme, wir hatten dennoch alles, was man braucht. Ich führe die Leser sehr gerne in genau diese Zeit. Das ist nicht schwer, weil es viele markante Sachen gibt aus dieser Zeit, an die man sich sofort erinnert. Man hat dann ein bisschen „Heile Welt“-Gefühl. Obwohl es ja um Mord und Totschlag geht, im Buch.

???: Sie leben inzwischen in Berlin. Ihre beiden Bücher spielen aber in der Pfalz. Warum genau hier?
Seel: Das ist meine Heimat, mein innerer Kern. Ich habe die Menschen, wie sie damals waren, noch sehr stark verinnerlicht. In ihrer unverstellten, authentischen und oft rauen Art liegt für mich der Reiz. Wie sie damals innerhalb der Dorfgemeinschaft miteinander umgegangen sind, aber dennoch eine Einheit bildeten. Sie haben kein Blatt vor den Mund genommen, waren sehr kurz in ihren Aussagen, die Meister der unvollendeten Sätze. Und wenn ich in dieser Zeit schreibe, habe ich natürlich den Vorteil, dass ich Begrifflichkeiten verwenden kann, ohne zu überlegen "Oh Gott, darf ich das jetzt schreiben, darf ich das sagen?" Wir waren ja damals fernab von jeglicher Political Correctness.

???: Würden Sie das Pfälzische im Vergleich zu anderen Dialekten als besonders derb bezeichnen?
Seel: Weniger den Dialekt, als vielmehr die Art zu kommunizieren. Darin liegt auch viel ungewollt Humorisches, das ich in meinen Büchern nutze. Die Frage „Schatz, wie war dein Tag heute?“ war noch gar nicht erfunden. Es ging doch eher ums funktionieren, um das, was halt gemacht werden muss. Und das ist der Sound in meinen Geschichten.

???: In ihrem ersten Buch geht es um eine wahre Begebenheit und hat dadurch, dass Sie in Edesheim aufgewachsen sind, eine ganz besondere Nähe. Was hat Sie daran so fasziniert und wie haben ihre Freunde und Bekannten auf ihre Bücher reagiert?
Seel: Die Geschichte in meinem ersten Buch, der Mord in meiner Nachbarschaft, ist etwas, an was sich das Dorf natürlich noch erinnert. Das war für mich ein interessanter Aufhänger und der perfekte rote Faden für einen Roman. Der eigentliche und wahre Kern der Geschichte ist jedoch im Grunde genommen auf zwei Seiten erzählt. Also muss man noch vieles dazu erfinden, der Fantasie freien Lauf lassen, den Figuren etwas auf den Leib schreiben, andere wiederum neu hinzuerfinden. Damit kann nicht jeder umgehen. True crime ist immer nur solange reizvoll, wie man so gar nichts damit zu tun hat. Das hat sich schnell gezeigt. Hat man irgendeine engere Verbindung zu der Sache oder identifiziert man sich über den Rahmen hinaus mit dem Geschriebenen, reagiert der ein oder andere tatsächlich empfindlich.

Es gab viele positive Reaktionen auf das Buch, viele mochten es, wie ich das geschrieben habe. Es gab aber auch vereinzelt Leute, die sich beschwerten. "Das ist alles so düster. Wir Pfälzer sind gar nicht so, wir sind sehr fröhliche und offenherzige Menschen.“ Das weiß ich ja besser, als jeder andere. Aber man muss so eine Geschichte ja atmosphärisch zusammenhalten und verdichten und da passen zuweilen die fröhlichen Pfälzer gerade nicht rein.

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Autor:

Katharina Wirth aus Herxheim

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