„Das Scheidungsverfahren hat begonnen – die Menschen dürfen dabei nicht unter die Räder kommen!“
Thomas Fedrow: Die Britten sollten bleiben!
„Das Ende einer Ära, sprich der Austritt des Vereinigten Königreichs hat begonnen“, so der Politikwissenschaftler Markus Lorenz in seinen Ausführungen zum BREXIT und dann weiter: „Die Europäische Union kannte seit ihrer Gründung nur die Richtung der Erweiterung und Weiterentwicklung, aber seit dem Votum der britischen Bevölkerung vor einem Jahr hat sich dies geändert.“ Lorenz ist in Brüssel ganz nah am aktuellen Geschehen, denn er ist dort stellvertretender Leiter des Europabüros der baden-württembergischen Kommunen und sprach auf Einladung der Europa-Union Albgau in O´Neills Irish Pub von Eamonn Ferry in Ettlingen, das auf den letzten Platz gefüllt war. Ferry, der seit 1989 in Ettlingen lebt, war über das Referendum pro BREXIT der Britten stark betroffen: „Ich habe heute noch nicht verstanden, warum sich Großbritannien mit knapper Mehrheit so entschieden gegen Europa gestellt hat.“ Er ist aber auch froh und sagt lächelnd: „Ich bin stolzer Ire und stamme aus Irland und wir bleiben in der EU!“
Das Scheidungsverfahren – „I want my money back“
Der Vorsitzende der Europa-Union, Bürgermeister Thomas Fedrow, moderierte durch den Abend und bat die Teilnehmer im Anschluss an das Impulsreferat von Lorenz Strategien für den zukünftigen Umgang mit dem Vereinigten Königreich aufzuzeigen. „Zuvor gilt es aber zu überlegen, wie es so weit kommen konnte“, so Fedrow. Für die Kreis-Europa-Union sprach der Vorsitzende Heinz Golombeck ein Grußwort. Dieser respektiert den britischen Bürgerwillen und sprach von „einer Trennung, die nur ein guter Scheidungsanwalt in den Griff bekommen“ könne. Lorenz erläuterte den Fahrplan für den Ausstieg unter Leitung des Chefunterhändlers aus Brüssel, Michel Barnier: „Bis zum spätesten Austrittstag am 29. März 2019 sind exakt 20.833 Gesetzte von den Briten zu durchforsten und zu ändern, allein 2175 Gesetze sind dies im Umwelt-, Gesundheits- und Verbraucherschutz“. Nach Barnier werde es auch für die Briten teuer, denn rund 60 bis 100 Milliarden an Forderungen werde die EU aufmachen. Dies sei allein schon durch die aktuellen Pensionszahlungen für 1.800 britische Beamte und Projekte der mittelfristigen Finanzplanung gegeben. Fedrow erinnerte an den berühmten Spruch von Margaret Thatcher „I want my money back“, der sich nun ironischerweise als Forderung der 27 verbleibenden EU-Staaten umgekehrt darstelle.
„Harter“ versus „weicher“ BREXIT – den Menschen helfen
„Bereits am 17. Januar kündigte Premierministerin Theresa May eine
vollständige Trennung, auch von EU-Binnenmarkt und Zollunion („harter BREXIT“) an, so Lorenz. Dies sei aber keine zwingende Schlussfolgerung aus dem BREXIT-Votum vom letzten Jahr. Möglich wäre nach seiner Ansicht ein sogenannter „weicher BREXIT“ mit weitgehendem Verbleib im Binnenmarkt, wie es etwa Norwegen über den Europäischen Wirtschaftsraum oder die Schweiz partiell über bilaterale Abkommen praktizieren. Für die Ettlinger Landtagsabgeordnete Barbara Saebel, die als fachkundiges Mitglied des Europa-Ausschusses des Landtages auf dem Podium sprach, ist die Rolle des Europäischen Parlaments wichtig und sie hat die Ereignisse verfolgt: „In der Sitzung am 5. April hat sich das Europäische Parlament als erste europäische Institution offiziell zum BREXIT positioniert.“ Daraus ergibt sich für Saebel auch eine Forderung: „Das Vereinigte Königreich muss die Interessen der EU-Bürger „in vollem Umfang“ berücksichtigen!“ Es gehe jetzt um die Rechte der 3,2 Millionen EU-Bürger in Großbritannien einerseits und andererseits um die Zukunft der 1,2 Millionen Briten, die in den EU-Staaten leben. Saebel: „Die Menschen dürfen nicht zum Spielball der Scheidungsverhandlungen werden!“ Interessant sei in diesem Zusammenhang die Zunahme der Einbürgerungen von Briten. Nach Fedrow gab es in Ettlingen im Jahr 2017 bisher drei Anträge und in den beiden Vorjahren keinen einzigen. Kreisweit habe es 2014 und 2015 zusammen sieben und 2016 schon 25 Einbürgerungen gegeben. Im Jahre 2017 erwartet der Bürgermeister einen Spitzenwert, denn bis Juni hätte es schon rund 20 Briten gegeben, die den deutschen Pass in der Hand haben. Für Julian Schahl als Vorsitzender der Jungen Europäer in Karlsruhe ist klar: „Alle Jugendaustauschaktivitäten und Bildungsprogramme für Studenten sind natürlich weiterzuführen.“ Schahl denkt dabei mit Sorge an das EU-Programm Erasmus, das die allgemeine und berufliche Bildung wie die Hochschulbildung als internationaler Leuchtturm umfasse. Fedrow erinnerte dabei an die Schlagzeile der Ettlinger Zeitung des Jahres 1953: „Die Jugend dankt den Ministern Europas“. Er verdeutlichte dabei, dass gerade nach dem Krieg die Jugend der Garant für die „Friedensgemeinschaft und stabile Wirtschaftskraft Europa“ war.
Finanz- und Grenzfragen werden entscheidend spürbar: Lastwagenstaus und Flüchtlinge
Der Politikwissenschaftler Lorenz erläuterte, dass bis jetzt die Auswirkung des Austritts auf den künftigen mehrjährigen Finanzrahmen der EU unklar sei, der aller Voraussicht ab 2021 gelten soll. Bislang ist das Vereinigte Königreich mit mehr als zehn Milliarden Euro nach Deutschland der zweitgrößte Nettozahler in der EU. „Ideen zur Kompensation des britischen Beitrags, zum Beispiel durch andere Einnahmequellen oder eine Überholung des bisherigen Systems von Regional- und Agrarförderung, werden in Brüssel bereits vielfältig diskutiert“, so Lorenz. Man war sich einig, dass das Freihandelsabkommen nicht in Frage gestellt werden dürfe. Auch die Grenzen seien nicht nur zur sichern – Stichwort gerechte Verteilung der Flüchtlinge -, sondern auch weiterhin für EU-Bürger leicht passierbar zu halten.
Aufleben der Städtepartnerschaft Ettlingen-Clevedon
Einig waren alle Diskutanten samt den Gästen, die an der Diskussion teilnahmen, dass der BREXIT nicht zu Lasten der Menschen und deren Freizügigkeit und nicht mit dem Verlust von Arbeitsplätzen einhergehen könne. Daher sei auch der Austausch mit der Ettlinger Partnerstadt Clevedon, der diese Jahr den 35. Geburtstag feiere, wieder zu beleben. Die Europa Union Albgau führe derzeit Gespräche mit den Briten und plane eine Reise nach Clevedon.
www. europa-union-karlsruhe.de (Ortsverband Albgau / Ettlingen)
Foto (v.l.n.r.): Julian Schahl (Vorsitzender der Jungen Europäer Karlsruhe), Beate Horstmann (Europa-Union Albgau), Barbra Saebel (Landtagsabgeordnete), Markus Lorenz (stv. Leiter Europabüro der baden-württembergischen Kommunen in Brüssel)
Eamonn Ferry (Inhaber Irish Pub), Thomas Fedrow, Uwe Flüß (Kreisrat), Heinz Golombeck (Vorsitzender Kreis-Europa-Union Karlsruhe)
Autor:Thomas Fedrow aus Ettlingen |
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