Lautern liest
Lesung von Martina Berscheid im Thalia Kaiserslautern
Die in Kaiserslautern geborene Martina Berscheid stellte am 22. Juni im Thalia ihren neuesten Erzählband "Fremder Champagner" vor. Daraus las sie zwei Kurzgeschichten, die erste und letzte von 15 im Buch. Die Veranstaltung war im Rahmen von "Lautern liest" verankert. Wenige Stunden später begann die Lange Nacht der Kultur.
In "Alles gut" sammelt Kerstin liegengebliebene Kassenbons und versucht phantasiebegabt in Verknüpfung mit dem ihr bekannten Erscheinungsbild der Käufer eine Vorstellung zu entwickeln, wie deren Leben so aussieht. Ihr Mann und der studierende Sohn dürfen es nicht erfahren, denn zur Vertiefung kauft sie einige der gelisteten Artikel nach, wie den titelgebenden Champagner oder einen Wein, welchen sie dann alleine konsumiert. Dabei entfaltet sie eine spezielle Form der psychischen Abkopplung, da ihre Familien-Normalität sie nicht mehr befriedigt. Das Gewissen plagt und beschämt sie dennoch, "ihre gedankliche Selbstrechtfertigungsschleife". Nachdem ihr Mann den Hochzeitstag vergessen hatte, eröffnet sich Kerstin die Perspektive eines Flirts.
In "Klare Verhältnisse" wird Katrin von der Fachärztin Dr. Rose therapeutisch betreut. Katrin führt ein einsames Leben in perfekter Ordnung, doch eins fehlt ihr dringend: Menschliche Wärme, Liebe und Zärtlichkeit. Dr. Rose rät ihr zu einer Umorientierung bei Dingen und zwischenmenschlichen Beziehungen. Katrin fängt eines Tages an, ihre Wohnung zu verwüsten, um dann einen Neustart zu wagen. Sie nimmt wieder Kontakt zu ihrer Freundin auf, besucht das Grab der Mutter und nimmt sich eines besonders traurigen Hundes aus einem Tierheim an.
Berscheid pflegt einen ruhigen ökonomischen Stil. Das passt auch zu den Protagonisten, den einsamen, stillen, unscheinbaren Menschen, wobei oft im Erzählverlauf zu einem bestimmten Momentum ein Wendepunkt erreicht wird. Der Autorin gelingt es zudem durch die präzise und detailreiche, aber kurzweilige Beschreibung des Alltäglichen, den Leser in die Geschichten gleich einem sukzessiv stärker werdenden Sog immer tiefer hineinzuziehen. Man identifiziert sich schnell: Denn so verhält sich mein Freund oder die Nachbarin, so ähnlich erleben sie ihre kleinen und großen Krisen – man fühlt sich infolge Berscheids überdurchschnittlicher Empathie verstanden.
Die Geschichten zielen wie in ihrem Roman "Die Klassenkameradin" auf die bürgerliche Mittelschicht, die sich irgendwie durchschlägt, nur der Grad der innewohnenden Toxizität variiert. Die Protagonisten wollen irgendwann weg vom Blues, so wie Tina Turner, hin zur entfesselten Energie.
Martina Berscheid saß während der Lesung an einer Eckwand und hatte offenbar wenig Platz zur Verfügung, um aus dem Buch mit Mikrofon zu lesen, nahm es aber gelassen. Knapp 30 Gästen fanden sich während der Öffnungszeit um 14 Uhr ein, vor dem Teich mit den lebensgroßen Terrakotta-Figuren des chinesischen Kaisers Qín Shǐhuángdì.
Buchtipp: Martina Berscheid: Fremder Champagner. Erzählungen. Mirabilis Verlag 2024, ISBN 978-3947857258. 24€.
Autor:Peter Herzer aus Kaiserslautern |
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