Wunder geschehen in der "Fabrik ohne Chef"
Schriller Lobgesang auf die klassenlose Utopie oder bitterböse Allegorie der Karlsruher Theaterwelt
Karlsruhe. In den vergangenen zwei Jahren hat das Regieteam Marthe Meinhold und Marius Schötz zusammen mit ihrem Bühnen- und Kostümbildner Florian Kiehl mit seiner unkonventionellen Arbeitsweise in der Theaterwelt für Aufsehen gesorgt. Musiktheater, Musical, Oper, Operette – oder von allem ein bisschen: In seinen Stücken begegnet das Team ohne eine vorherige thematische Festlegung Monate vor Probenbeginn den Schaupieler:innen und führt Gespräche, die sich einzig und allein an dem Leitfaden „Was ist euch wichtig? Was beschäftigt euch?“ orientieren. Die Gespräche werden aufgezeichnet und bilden das Material für das Libretto des entstehenden Stückes, ergänzt durch die von Schötz komponierte eigens Musik.
„Wunder geschehen“ heißt das so in Karlsruhe entstandene Stück, das am Samstag im Kleinen Haus des Badischen Staatstheaters Premiere feierte. Inhalt: ein jugendlicher Praktikant (gespielt von Gunnar Schmidt) tritt ein Praktikum in einer Fabrik an, lernt das Arbeitsleben kennen, stellt sich die elementare Frage: „Warum mache ich das und was will ich eigentlich“.
So weit so gut, wenn die Fabrik einfach irgendeine Fabrik wäre, ist sie aber nicht, sie ist die „FABRIK OHNE CHEF“. Den gab es zwar irgendwann mal und einige trauern ihm vielleicht auch ein bisschen nach, aber im Großen und Ganzen versuchen die Arbeitenden die Utopie der klassenlosen Gesellschaft zu leben. Das klappt in manchen Bereichen ganz gut, in manchen weniger – generell stellt sich die Frage: warum arbeiten, wenn es keiner von einem verlangt. Ein Blick in die Vergangenheit der Fabrik erklärt das: Wenn Beruf, Berufung ist, arbeitet man gerne – aber nicht bedingungslos und zu jeder Zeit. Und am Ende hinterfragt man alles viel mehr, wenn es keinen Chef gibt, der einem einfach vorschreibt, was man zu tun hat.
Es stellt sich die Frage: Warum die Gespräche mit den Schauspieler:innen des Badischen Staatstheaters das Material für genau dieses Stück hergeben. Sind sie unzufrieden mit den Hierarchien im eigenen Haus, ist der Druck zu groß, verlangt man zu viel von den Beschäftigten? Und natürlich steckt auch das hinter der in dem Musical verarbeiteten Utopie. Ddenn jeder, der die jüngere Geschichte des Badischen Staatstheaters in Karlsruhe mitverfolgt hat, weiß, woran es krankt, weiß, wo die Probleme liegen. Der Karlsruher Musengaul ist in die Jahre gekommen und Veränderung fällt ihm schwer. Dementsprechend fällt diese in Form eines Feuers über die „Fabrik“ herein – das „Feuer der Veränderung“, es wird im Laufe der erzählten Geschichte gelöscht. Zu groß die Angst vor der Zerstörung oder der reinigenden Veränderung.
„Wunder geschehen“ erinnert irgendwo auf seiner imposant schrill leuchtenden Neonbühne an Brecht - in seiner fast verzweifelten Kapitalismuskritik und im Hoffen auf das Funktionieren der Utopie. Das Stück ist – im besten Sinne – schwer zu greifen, schafft aber auf bewundernswerte Weise die Balance zwischen eingängiger Schlagermusik und beißender Gesellschaftskritik. Eine Allegorie der Karlsruher Theaterwelt ebenso wie der Lobgesang auf eine Utopie, die in der Theorie wie das Paradies erscheint, im Alltag der cheflosen Fabrik jedoch auch zu Konflikten und Krisen führt.
Nicht ohne Grund endet „Wunder geschehen“ nicht mit Hausmeisterin Sandras (Claudia Hübschmann) Arie „The Job is done“, sondern mit der Arie von Hubi, dem Praktikanten, der am Ende des Stücks – in einer Art Epilog – „die Art der Matrosen“ besingt, die die Welt bereisen und rastlos immer weiterziehen. Am Ende lässt das Stück den Zuschauer mit vielen Fragen zurück, die er sich selbst beantworten muss. Denn am Ende müssen wir uns alle fragen: Wie viel Utopie steckt in mir selbst und bin ich mutig genug, sie zu leben?
Im Kleinen Haus des Badischen Staatstheaters am 10. und am 24. Juni
Autor:Heike Schwitalla aus Germersheim | |
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