Der Mensch als Maßstab
Architekturpsychologisches Forschungsprojekt der Volkswohnung
Wie kann Wohnarchitektur zum Erhalt und zur Förderung psychosozialer Gesundheit beitragen? Um Antworten auf diese Frage zu finden, hat die Volkswohnung gemeinsam mit dem Büro Kopvol architecture & psychology das Forschungsprojekt „Der Mensch als Maßstab. Architektur und psychosoziale Gesundheit im bezahlbaren Wohnungsbau“ initiiert. Gefördert wurde das beispielgebende Projekt 2021-2023 im Rahmen der Wohnraumoffensive Baden-Württemberg. Bei der Ergebnispräsentation und Vorstellung der empirischen Studie in Karlsruhe wurde deutlich: Die Antworten, die Kopvol in der zweijährigen Untersuchung im mehrgeschossigen Mietwohnungsbau der Volkswohnung in Karlsruhe gefunden hat, sind teils überraschend, teils bestätigend klar.
Die Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum nimmt kontinuierlich zu. Gleichzeitig steigt die psychosoziale Belastung der Mieter:innen. „Verdichten, verkleinern, teilen. Um uns den ökologischen und gesellschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart zu stellen, müssen wir künftig alle zusammenrücken“, sagen die Einen. Was aber sagen die Anderen? Menschen, die im sozial geförderten Wohnungsbau bereits auf normierten Flächen und in effizienten Grundrissen leben? Was können wir von ihrer Lebenswirklichkeit lernen? Was müssen wir anders planen, was besser entwerfen?
Diesen Fragen hat sich die Volkswohnung als Initiatorin des Forschungsprojektes „Der Mensch als Maßstab. Architektur und psychosoziale Gesundheit im bezahlbaren Wohnungsbau“ gestellt. Als große Bestandshalterin mit rund 13.500 Wohnungen in Karlsruhe kann sie maßgeblich Einfluss nehmen auf die Planung von Neubauten und Bestandsstrukturen. „Unstrittig ist, dass Bezahlbarkeit und Ökologie zentrale Themen sind. Aber wie entstehen Wohnungen, die sich förderlich auf die psychische und physische Gesundheit der Bewohner:innen auswirken? Wir wollten herausfinden, wie beispielsweise das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit gestaltet sein muss, damit das Zusammenleben in heterogenen Nachbarschaften gut funktioniert. Die Schaffung einer soliden Datenbasis für den Diskurs war uns dabei besonders wichtig,“ erläutert Anja Kulik, Leiterin Quartier, Soziales und Entwicklung bei der Volkswohnung, die Motivation der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft.
In einer Projektpartnerschaft mit dem Büro Kopvol architecture & psychology – hinter dem die Pionierinnen der Architekturpsychologie in Deutschland, Prof. Dr. Tanja C. Vollmer und Prof. Gemma Koppen, stehen – wurde das gemeinsame Projekt aufgesetzt und zwischen 2021 und 2023 im Bestand der Volkswohnung durchgeführt. Möglich war dies durch die Unterstützung des Ministeriums für Landesentwicklung und Wohnen Baden-Württemberg, das die Grundlagenforschung im Rahmen der Wohnraumoffensive Baden-Württemberg als beispielgebendes Projekt förderte.
Prof. Dr. Tanja C. Vollmer und Prof. Gemma Koppen, Gründerinnen und Wissenschaftliche Direktorinnen von Kopvol, stellten in Karlsruhe die zentralen Ergebnisse der Studie vor. Kopvol untersuchte in einem empirisch prospektiven Ansatz die Wohnsituation von insgesamt 1.779 Bewohnerinnen und Bewohner der Volkswohnung und führte ein vielschichtiges methodisches Testverfahren durch. Drei Testbereiche wurden untersucht: wohnbezogene Bedürfnisse, architekturbezogene Gesundheit und psychosoziale Gesundheit. Ein wichtiges Ergebnis ist, dass die Befriedigung von vier Bedürfnissen eine zentrale Rolle für die psychosoziale Gesundheit der Bewohnerinnen und Bewohner spielt:
1. Das Bedürfnis nach Privatheit ist deutlich höher als das Bedürfnis nach sozialer Interaktion mit den Hausbewohner:innen. Je stärker Sicht- und Lärmschutz gegenüber Nachbarn gewährleistet ist, desto höher sind subjektives Wohlbefinden und gesundheitsbezogene Lebenszufriedenheit.
2. Das Bedürfnis nach Entwicklung sollte zu gleichen Teilen von regenerierenden und stimulierenden Entwurfsmerkmalen der Wohnung und Wohnumgebung befriedigt werden. Je eingeengter sich Bewohnerinnen und Bewohner fühlen, desto ungesünder nehmen sie sich selbst und ihr Leben wahr.
3. Das gesundheitsrelevante Bedürfnis nach Zugehörigkeit ist dann befriedigt, wenn der Wohnraum ausreichend Möglichkeit zum Selbstausdruck, also zur individuellen Gestaltung, lässt und gleichzeitig traditionelle Strukturen aufweist, beispielsweise klassische Raumaufteilungen.
4. Das Bedürfnis nach Komfort richtet sich eindeutig auf den Wunsch nach effizient gestalteten Wohnräumen, die ausreichend Staumöglichkeiten und kurze Wege bieten.
„Dass wir erstmals wissenschaftlich darstellen können, dass Selbstwert und gesundheitsbezogene Lebenszufriedenheit von der Wohnarchitektur abhängen und so die psychosoziale Gesundheit der Bewohnerinnen und Bewohner bestimmen, wird Planungs- und Entwurfsentscheidungen im bezahlbaren Wohnungsbau der Zukunft prägen – zumindest bei all jenen, denen Gesundheitserhalt und Förderung wichtig ist! Wie das gehen kann, zeigen unsere qualitativen Raumkonzepte, die unmittelbar und partizipativ aus den Forschungsergebnissen abgeleitet wurden“, so Vollmer.
„Die Ergebnisse wirken bereits auf vielfältige Weise: Als Bestätigung, Korrektiv und Inspiration. Vor allem die erarbeiteten Raumkonzepte ermöglichen es uns, die Ergebnisse in konkrete Planungsvorhaben, Grundrissgestaltungen und auch die Schaffung von Orten zufälliger Begegnung im Quartier zu übertragen“, resümiert Kulik.
Die Studie ist unter dem Titel „Der Mensch als Maßstab. Architektur und psychosoziale Gesundheit im bezahlbaren Wohnungsbau“ (Pabst Science Publisher, 2023) ab sofort im Handel erhältlich.
Autor:Gudrun Ziegler aus Karlsruhe |
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