Anne Sophie Perrin hält Vortrag an der Uni
Auf Augenhöhe
Mit Willenskraft und Lebensfreude behauptet sich Anne Sophie Perrin im Alltag. Ein Spezialcomputer verwandelt ihre Worte in Klang. In Landau hat die Mitarbeiterin der Südpfalzwerkstatt einen Vortrag an der Uni gehalten und sich mit Studierenden ausgetauscht.
18:15 Uhr. Letztes Stühlerücken. Gleich geht es los. An diesem Dienstagabend Anfang Mai sind alle Plätze des Seminarraums im Institut für Sonderpädagogik der Universität Koblenz-Landau in der Xylanderstraße besetzt. Die Studierenden sind gespannt auf den folgenden Vortrag einer besonderen Referentin.
„Mein Name ist Anne Sophie Perrin“, tönt es aus dem Lautsprecher. „Ich kann zwar nicht sprechen, aber ich bin Profi in der Nutzung der Augensteuerung.“ Wegen einer Cerebralparese – einer Bewegungsstörung aufgrund einer frühkindlichen Gehirnschädigung – kann die Mitarbeiterin der Südpfalzwerkstatt nicht ihre eigene Stimme nutzen. Zudem sind die Arme und Beine der 21-Jährigen gelähmt. Tetraspastik lautet der Fachbegriff dafür. Ihre Muskeln verkrampfen halsabwärts willkürlich. Sie hat keine Kontrolle darüber. Ihr Geist hingegen ist hellwach. Zusammen mit ihrer Assistentin Tatjana Sieghold und Christof Müller, Fachbereichsleitung Rehabilitation, ist Anne Sophie Perrin einer Einladung der Uni gefolgt. Sie freut sich darauf, den Studierenden Einblicke in ihren Alltag zu vermitteln und mit ihnen ins Gespräch zu kommen.
„Parlez-vous français?“, wird Anne, wie sie selbst sich nennt, gefragt. Ob sie Französisch spricht? „Oui“, bejaht die Referentin. Ihr Vater stammt aus Frankreich. Gemeinsam mit ihren Eltern lebt sie im südpfälzischen Insheim. „Hast du Geschwister?“, möchte einer der Studierenden wissen. „Nein, ich habe zwei Katzen.“ Wie wichtig Humor für Anne ist, zeigt sich auch bei der Vorstellung der Kommunikationsoberfläche des „Tobii“. Der Spezialcomputer lässt sich an Annes Rollstuhl anbringen. „Tobii“ erfasst ihre Blicke, mit denen sie beispielsweise eine Reihenfolge von Buchstaben auswählt. Ein Lautsprecher verwandelt ihre Worte in Klang. All das ist nicht nur technisch sehr anspruchsvoll, es verlangt Anne enorm viel Kraft ab. Jeden Buchstaben muss sie mit den Augen einige Sekunden lang fixieren, bis er ausgewählt ist. Schon moderate Bewegungen der Augen können sie am Weiterschreiben hindern. Wenn ihre Muskeln verkrampfen, fällt es noch schwerer. Bestimmte Aussprüche, die Anne im Alltag benötigt, lassen sich einspeichern, um ihr die Kommunikation etwas zu erleichtern. Dazu gehören „Schuhe wechseln nicht vergessen“ und „unwissende Weidedame“ ebenso wie Teile ihres Vortrags.
„Die Technik hat sich stark weiterentwickelt“, berichtet Anja Quint. Die Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts führt als Moderatorin durch den Abend. Sie kennt Anne bereits aus deren Zeit an der Förderschule mit Förderschwerpunkt motorische Entwicklung in Landau. Dort war sie ihrer erste Englisch-Lehrerin. „2009 gab es noch ein Gerät, das an einem Tisch fixiert und schwer zu bedienen war“, erinnert sich Anja Quint. Schon damals nutzte Anne eine zusätzliche Form der Interaktion, die es ihr ermöglicht, Entscheidungsfragen zu beantworten: Öffnet Anne den Mund, sagt sie „ja“, bleibt der Mund geschlossen, bedeutet es das Gegenteil.
„Guten Lehrern gelingt es, Kinder dort abzuholen, wo sie stehen“, lässt Anne „Tobii“ sagen. „Ich war zwölf Jahre lang Schülerin an der Förderschule Motorik in Landau und habe dort meinen Hauptschulabschluss gemacht – einen sehr guten sogar. Die Lehrer haben mich unterstützt und an mich geglaubt.“ Schon während ihrer Schulzeit entstanden erste Kontakte zur Südpfalzwerkstatt. „Eine Tagesförderstätte wäre für Anne undenkbar gewesen. Das hätte sie stark unterfordert“, betont Christof Müller. „Gleichzeitig war klar, dass Anne im Werkstatt-Alltag eine Einzelbetreuung benötigen würde. Eine solche Begleitung wird jedoch nur in seltenen Fällen bewilligt.“ Zahlreiche Gespräche mit Ämtern und Behörden folgten. Schließlich hatte das gemeinsame Engagement für Annes Zukunft in der Südpfalzwerkstatt Erfolg.
Seit August 2018 weicht Tatjana Sieghold Anne während der Arbeitszeit nicht von der Seite. Schnell haben die beiden Frauen den Draht zueinander gefunden und ein vertrauensvolles Verhältnis aufgebaut. Die Assistentin hilft bei allem, was die 21-Jährige nicht ohne Unterstützung tun kann – zum Beispiel beim Essen und Trinken oder dabei, sich von einem Ort zum anderen zu bewegen. Außerdem achtet sie darauf, dass Anne genügend Pausen macht. In ihre Arbeit am Bildschirm mischt sie sich nicht ein.
„Während ihrer Zeit im Berufsbildungsbereich der Südpfalzwerkstatt hat Anne unter anderem Begleitzettel für Paletten ausgefüllt. Sie war sehr gewissenhaft, doch auf Dauer wäre diese Tätigkeit zu wenig abwechslungsreich für sie gewesen“, führt Tatjana Sieghold aus. Nach mehreren Praktika hat Anne Sophie Perrin nun eine passende Aufgabe gefunden: In der Abteilung Druck und Mail entwirft sie mit viel Liebe zum Detail individuelle Grußkarten für unterschiedliche Anlässe. Eine Spezialsoftware ermöglicht es ihr unter anderem, Bild- und Textelemente auszuwählen und millimetergenau zu platzieren. Auch ihr persönliches Logo darf nicht fehlen. Sogar aus dem Ausland hat Anne schon Aufträge erhalten. Gerade erst wurden von ihr gestaltete Karten nach England verschickt. „Kannst du dir vorstellen, diese Arbeit auch in fünf Jahren noch zu machen?“, fragt eine der Studierenden. Für die Antwort benötigt Anne weder Bedenkzeit noch technische Unterstützung: Stolz öffnet sie weit den Mund. Ein eindeutiges Ja. Nach gut 90 Minuten endet der Abend unter lautstarkem Beifall für eine Frau, die mit ihrer Willensstärke und Lebensfreude die Zuhörer tief bewegt hat.
Autor:Dennis Christmann aus Offenbach |
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