Analphabetenverein Ludwigshafen und Mannheim nimmt politischen Einfluss
Helden des Alltags. Der Verein für Analphabeten Ludwigshafen-Mannheim (SALuMa e.V.) setzt sich für Menschen ein, die nicht richtig lesen und schreiben können. Mit seinen pionierhaften Ideen, andere Betroffene zu erreichen und das Kursangebot mit zu organisieren, nimmt er heute politischen Einfluss. Seine Gründungsmitglieder gehen mit ihrer Geschichte und der Thematik offen um – das bringt Akzeptanz und Anerkennung ein.
SALuMa berät heute auf Tagungen der Bildungsministerien die Politik darüber, wie man Zugang zu Analphabeten findet, sie motiviert und wie man Hilfen am besten institutionalisiert. Vom Bundesalphabetisierungsverband wurde er 2005 als Botschafter für Alphabetisierung ausgezeichnet. Er formierte sich erstmals 1994. „Die späteren Gründungsmitglieder nahmen damals an einer Protestaktion teil, weil die gesamten VHS Kurse für Lesen und Schreiben sowie Grundbildung auf der Kippe standen, die Förderung sollte auslaufen“, erzählt Vorstandsmitglied Thorsten Böhler, „wir entschieden uns, uns zu outen und mit dem Thema auf die Straße zu gehen.“ Mit Erfolg. Das Kursangebot blieb bestehen. 2003 gründete sich die Selbsthilfegruppe, 2014 organisierte man sich als Verein, dessen politischer Einfluss immer mehr wächst. Die Politik lädt zu den Tagungen, denn Betroffene wissen am besten, was sie brauchen und wie der Zugang zu anderen Betroffenen gelingt. Das regionale Alphabetisierungsnetzwerk Alfa-Bündnis Rhein-Neckar, das von SALuMa initiiert wurde, soll herausfinden, wie man an die Zielgruppe herankommt und anderen den Weg hin zur Alphabetisierung ermöglicht.
Das geschieht in Ludwigshafen schon länger über Lerntreffs in Quartierbüros in Einzugsgebieten sowie über Lerncafés im Mehrgenerationenhaus. Dies sind niederschwellige Angebote, die jedem offenstehen, der Lesen und Schreiben lernen oder einen Schulabschluss nachmachen will. Nach dem Vorbild Ludwigshafens entstehen sie derzeit im gesamten Bundesland. Viele Mitglieder von SALuMa sind Lernbegleiter in Lerntreffs und Lerncafés.
Die Ursachen von funktionalem Analphabetismus sind heute gut erforscht. Funktionale Analphabeten werden etwa Kinder von Eltern, die mit sich selbst überfordert sind, sei es durch viele Geschwister, psychische Krankheit oder mehrere Jobs, um die Familie zu halten. Was Eltern als Überforderung erleben, erleben Kinder meist als Desinteresse oder Vernachlässigung. Solche Systeme übertragen zu viel Verantwortung an ebenfalls überforderte Institutionen. Hilfe vom Elternhaus ist nicht zu erwarten, aus kleinen Lernschwierigkeiten werden große Lernlücken. Als typische Ursache gelten aber auch demotivierende oder ausgrenzende Erfahrungen beim Lernen, etwa durch Mobbing und Hänseln durch Mitschüler oder Diskriminierung durch Lehrer. Auch motorisch oder kognitiv bedingtes langsames Sprechen kann ein Grund sein. Betroffene Kinder lesen auch etwas später. Wer in der Schule nicht ernst genommen wird, der erlebt es später immer wieder. Funktionale Analphabeten werden von Menschen, die sich nicht um Verständnis bemühen und voller Vorurteile sind, als dumm oder faul hingestellt.
Die fehlende Fertigkeit, nicht lesen und schreiben zu können, steht in keinem Zusammenhang mit der Intelligenz eines Menschen. „Die Klugheit und Schläue zeigt sich in den Lebensstrategien, mit denen sie ihren Alltag tagtäglich meistern, ohne aufzufallen. Viele sind deshalb gute Manager geworden, die ihr Leben durchorganisieren. Da wird auch mal vorgetäuscht, die Brille vergessen zu haben, um andere für sich unterschreiben oder vorlesen zu lassen“, erklärt VHS-Dozentin Elfriede Haller. Viele haben verblüffende Sozialkompetenzen und eine ausgeprägte praktische Intelligenz, wie einer ihrer Teilnehmer, der als Autodidakt ein wahrer Handwerkskünstler wurde und der zum Beispiel den Truck von RNF live für die Bühnenpräsenz aufbereitete.
6,2 Millionen Menschen in Deutschland können zwar Buchstaben, Wörter und einzelne Sätze lesen und schreiben, haben aber Mühe, einen längeren zusammenhängenden Text zu verstehen. Mehr als die Hälfte sind Muttersprachler. 60 Prozent davon sind in Arbeit.
Die Vorstandsmitglieder von SALuMa haben Beispielloses geleistet. Sie waren fast ihr ganzes Leben in Arbeit, trotz aller Startschwierigkeiten. Einige haben der Gesellschaft tolle Kinder geschenkt. Da gibt es Gudrun Völker, die sich schon im Alter von sieben Jahren viel um ihre kleine Babyschwester kümmerte. Sie kommt aus einer Suchtfamilie. Gudrun hatte zu viel Verantwortung, Zeit und Muse blieben für die Hausaufgaben nicht. „Vor 36 Jahren bin ich zur Beratung und Aufnahme in die Volkshochschule gekommen“, erzählt sie. Über die Kurse für Alphabetisierung und Grundbildung kam Völker zu einer Ausbildung als Alltagsbegleiterin für Demenzkranke, mit der sagenhaften Abschlussnote von 2,4. „Im Pflegeheim war sie immer die beliebteste Begleiterin bei den Bewohnern“, berichtet Haller.
Gudrun war alleinerziehende Mutter. Ihre Töchter wuchsen bei ihr aber ganz anders auf als sie selbst. „Ich wollte ihnen alles ermöglichen“, erzählt Gudrun. Um die Zukunft ihrer jüngeren Tochter kämpfte sie, als der Klassenlehrer schon in der ersten Klasse die Empfehlung für die Förderschule aussprach. Es sei besser für sie, denn sie sei langsam, erklärte er ihr. „Ich nahm meine Tochter von der Schule und ließ sie den Schulkindergarten besuchen“, erzählt Völker. „Beim zweiten Versuch der Einschulung zeigte sie genauso schnelle Lernerfolge wie die anderen.“ Beide ihrer Kinder haben ihren Weg in ein glückliches Leben gemacht und stehen heute im Beruf.
Auch der heute 70-jährige Karlheinz Maurer arbeitete 48 Jahre lang ohne Abschluss in der Tasche. 10 Jahre davon arbeitete er in einer Friedhofsgärtnerei und 38 Jahre als Maschinenfahrer bei Giulini. Er hatte als Kind motorisch bedingte Sprachprobleme, die man fehldiagnostizierte, weshalb er nie die Chance auf einen Schulabschluss bekam. „Während meiner Zeit bei Giulini durchlief ich mit einem vierwöchigen Sprachunterricht in Lauterecken“, erzählt er. „Nachdem ich zu SALuMa gefunden habe, nehme ich nun seit einigen Jahren an den Schreibkursen teil und unterstütze eine Logopädie-Schule als Proband.“ Im Verein schätzt er das gute Klima und die Gemeinschaft.
Thorsten Böhler, der im Kindesalter eine Gehirnhautentzündung hatte, was sein Sprechfertigkeit beeinträchtige, machte an der VHS innerhalb von drei Jahren seinen Hauptschulabschluss nach. Auf der Körperbehindertenschule Oggersheim, die Böhler wegen seiner motorischen Sprechbehinderung besuchte, fühlte er sich von einer Lehrerin ungleich behandelt. „Als ich zum Karneval mit einem Cowboykostüm in die Schule kam, zwang sie mich, mich vor der gesamten Klasse umzuziehen, um meinen Alltagsdress überzuziehen.“ Harte Jahre. Böhler beendete die Schule nicht, der emotionale Druck war zu groß. Er begann als Teenager auf einem Reiterhof zu arbeiten. Dort ist er immer noch – heute aber mit Ausbildung als Pferdepfleger, die er sich mit dem Hauptschulabschluss an der VHS ermöglichte. „Dass mir das so schnell gelungen ist, habe ich auch meiner Lehrerin Frau Barth zu verdanken. ‚Du bestehst das gleich‘, sagte sie immer. Mich quälten dagegen Selbstzweifel“, erzählt Böhler. „Durch die professionelle Ausbildung kann ich die Pferde neben der Pflege heute auch therapieren.“ Nach seinem Berufsabschluss verwirklicht er sich nun seinen nächsten Traum: Er schreibt einen Roman über eine Analphabetin.
Der Verein hat ein klares Leitbild. Nach diesem soll jeder die Chance erhalten, lesen und schreiben zu lernen und am besten als Kind. „Das ist wesentlich im Leben. Wer gut lesen und schreiben kann, hat mehr Selbstvertrauen und tritt sicherer auf“, erklärt Böhler. „Meine Schüchternheit hat mich früher beherrscht. Ich sprach keine Menschen an und hab mir vieles angehört. Heute gehe ich auf Menschen zu und sage, was ich will.“ „Die kleine Maus zu bleiben, hemmt einen enorm“, fügt Haller hinzu. Wer Analphabet bleibt, läuft Gefahr, in Abhängigkeiten zu leben oder ausgenutzt zu werden. Haller kennt so manche Geschichte. Etwa die von einer Teilnehmerin, die von ihren Söhnen etwas zum Unterschreiben vorgelegt bekam, damit sie ans Erbe kommen.
Die heute 60-jährige Sikrit Schorer ist in einer Familie mit elf Kindern groß geworden. „Unsere Eltern hatten mehr Verständnis für fremde Kinder als für die eigenen“, berichtet Schorer aus ihrer Kindheit. „Ich bin im Grundschulalter in die Sonderschule abgerutscht“, sagt sie. Hilfe war zuhause nicht zu erwarten. Schorers Start war nicht leicht, ihr Leben hat sie dennoch sehr gut gemeistert. Gemeinsam mit Ihrem Mann arbeitete sie hart, um ihren sechs Kindern was zu bieten. Jedes davon hat heute seinen Beruf. Als sie bereits Mitte Vierzig war, legte die Kurse „Lesen und Schreiben“ ab. Sie freute sich über die Impulse von Dozentin und Coach Haller. „Heute lebe ich selbstbestimmt und traue mich zu sagen, was Sache ist“, sagt sie. Wie Karlheinz ist sie Lernbegleiterin im Lerntreff und im Mehrgenerationenhaus, wo diverse Kurse angeboten werden.
Der Verein SALuMa zeigt sich in der Öffentlichkeit, etwa beim Maimarkt mit einem Stand, um Akzeptanz und Verständnis für die Problematik in der Öffentlichkeit zu erreichen. „Mit Schwächen nach außen zu gehen beeindruckt, die jeder versucht zu verbergen“, sagt Haller. Man besucht gemeinsam Kulturevents, Buchmessen, hat Spaß am Lesen und erweitert die eigene kleine Bibliothek ständig.
Die Alphabetisierung von Menschen erhielt seit den 80er Jahren allmählich Einzug in politische Debatten und ist, wie Bildung generell, Ländersache. Rheinland-Pfalz formulierte, als eines der ersten Bundesländer, Mitte der 90er Leitlinien für Alphabetisierung. Während andere Länder die Augen verschlossen vor der Problematik. "Aber als 2011 die erste Studie Leo Level One die erschreckenden Zahlen aufzeigte, konnte die Politik die Augen nicht mehr verschließen“, sagt Haller. In den Betroffenen steckt ein ungemeines Potenzial und Chancen auf Entwicklung. Nicht selten ergreifen Analphabeten Berufe, die stark gefragt sind, etwa in der Pflege. Deshalb verpflichtet der Bund die Länder seit 2016 zur Umsetzung von Alphabetisierungsmaßnahmen. Sie haben einen immer größeren Stellenwert. Das zeigt sich auch an zahlreichen Landesmaßnahmen, wie etwa im Grubi-Netzwerk in Rheinland-Pfalz und dem Alpha-Projekt in Baden-Württemberg, das Analphabeten zielführend zu Abschlüssen bringt. jg
Autor:Julia Glöckner aus Ludwigshafen |
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