Mein Chor: Gabi Heiß liebt die Abwechslung. Zu Noten und Tönen hat die Neustadterin einen Zugang, der sie von vielen ihrer Mitsängerinnen unterscheidet.
Das Ohr als Schlüssel zur Musik
Der Alt singt. Fast der ganze Alt: Gabi Heiß spitzt die geschlossenen Lippen, spannt die Muskeln an den Schläfen an. Sie lauscht. Stutzt. Dann nickt sie. „Noch einmal diese Stelle“, bittet Chorleiter Hans-Jochen Braunstein. „Cum Sancto Spiritu“, tönt es nun auch aus dem Mund der blonden Dame in der hintersten Reihe, während sich ihre Schultern rhythmisch im Takt wiegen. Jetzt singt der ganze Alt.
Wenn es darum geht, mit der Neustadter Liedertafel neue Werke einzustudieren, setzt Gabi Heiß ganz auf ihr Ohr. Zwar spielte sie zu Schulzeiten Blockflöte und zwei Jahre lang Gitarre, doch Noten zu lesen, hat sie nie gelernt. „Ich lerne über das Hören und orientiere mich zusätzlich an den Noten auf der Partitur – ein bisschen wie auf einer Landkarte. So sehe ich zum Beispiel, ob als Nächstes ein kleiner Schritt oder ein großer Sprung folgt.“ Dank ihres guten Gehörs nimmt die Neustadterin nicht nur bei anderen falsche Töne wahr, sondern auch bei sich selbst. „Abspeichern, merken, beim nächstes Mal richtig machen.“
Für Gabi Heiß, die bis 2017 noch nie in einem Chor gesungen hatte, funktioniert dieses System bestens. Die Probe aufs Exempel machte sie mit ihrem ersten Konzert überhaupt – Giuseppe Verdis „Messa da Requiem“, die als eines der bedeutendsten und anspruchsvollsten geistlichen Werke der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gilt. „Vorher war mir das nicht bewusst“, blickt Gabi Heiß zurück. „Ich bin keine Kennerin.“ In ihrer Freizeit hört sie viel Radio und YouTube, eine bunte Mischung von Klassik bis Pop. „Während der ersten Proben für dieses imposante Werk dachte ich, ich schaffe das nicht“, erinnert sich die Sängerin. Doch dank intensiver Probenarbeit und digitalen Übungshilfen meisterte Gabi Heiß diesen Auftritt im Saalbau mit der Liedertafel Neustadt souverän. „Als die letzten Tön verhallten, war ich unglaublich stolz, aber auch traurig, dass es vorbei war. In den Tagen danach habe ich das Stück noch ein paar Mal angehört – eine Art kleiner Abschied.“
Innererer Schweinehund ohne Chance
Die „Trauer“ währte nur kurz. „Abwechslung reizt mich“, verrät Gabi Heiß. Und daran mangelt es bei der Liedertafel keineswegs: Auf das „Verdi-Requiem“ folgten ein romantisches Hofkonzert, ein Händel-Oratorium mit antikem Stoff in der Bearbeitung von Wolfgang Amadeus Mozart, ein Opern- und Operettenkonzert, bei dem die Sängerinnen und Sänger auch als Schauspieler gefragt waren, sowie ein Weihnachtskonzert mit Werken von Felix Mendelssohn-Bartholdy. Nun steht die von südamerikanischen Klängen und Rhythmen inspirierte „Missa latina“ von Bobbi Fischer auf dem Programm. Sie wurde vor nicht einmal fünf Jahren komponiert.
In der Regel gibt es bei der Liedertafel zwei bis drei Auftritte pro Jahr. Das kommt Gabi Heiß sehr entgegen. Seit 1992 betreibt die selbstständige Ergotherapeutin eine eigene Praxis. Zum körperlichen Ausgleich hält sie sich in einem Studio fit. Entsprechend stark ist sie eingespannt. „Wenn ich etwas tue, gebe ich immer mein Bestes“, betont die Vorderpfälzerin. „Aber ich habe mir bewusst ein Hobby gesucht, das mir zeitliche Freiräume lässt und bei dem nicht die Leistung im Vordergrund steht.“ Vor knapp drei Jahren fragte sie sich: „Was mache ich, wenn es mir gut geht?“ Die Antwort: „Singen.“ Kurzerhand besuchte Gabi Heiß eines Mittwochabends die Probe der Liedertafel – und blieb. Natürlich muss auch die Ergotherapeutin hin und wieder mit ihrem inneren Schweinehund kämpfen, um sich nach einem langen Arbeitstag aufzuraffen und auf den Weg in die Karolinenstraße zu machen. Doch der Schweinehund hat keine Chance: Das Singen im Chor gibt ihr neue Energie. „Nicht nur musikalisch ist die Liedertafel eine große Bereicherung für mich“, unterstreicht die Sängerin. „Die Menschen hier sind sehr offen und haben mich gut aufgenommen. Auch einige Freundschaften sind entstanden.“ Gabi Heiß schätzt die gesellschaftlichen Aktivitäten der Liedertafel sehr, darunter die Begegnungen mit den Partnerchören aus Lincoln und Mâcon. Beim Sommernachtsfest hat die Neustadterin einen Teil der Verantwortung für den Sektpavillon auf dem „Olymp“ des Haardter Schlosses übernommen.
Immer wieder begegnet Gabi Heiß Menschen, die darüber nachdenken, in einem Chor zu singen, aber unsicher sind. Ihre Botschaft an sie ist klar: „Traut euch! Man muss keine besonders kräftige oder außergewöhnliche Stimme haben, sondern einfach nur die Töne treffen.“ Bei der Liedertafel kommt das allwöchentliche intensive Stimmtraining mit Hans-Jochen Braunstein zum Probenbeginn hinzu. Die Altistin ist seit 2017 deutlich sicherer geworden, singt saubere Töne in Lagen, an die sie noch vor drei Jahren nicht zu denken wagte. Mindestens so wichtig wie die Entwicklung der eigenen musikalischen Fähigkeiten ist Gabi Heiß allerdings das Erlebnis der Gemeinschaft: „Wenn viele Menschen miteinander singen, ist das etwas unglaublich Schönes. Gänsehautmomente sind da garantiert!“
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Autor:Dennis Christmann aus Neustadt/Weinstraße |
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