Mein Chor: Die Harmonie und die Komplexität mehrstimmiger Musik begeistern Jens-Uwe Bliesener. Nach jahrzehntelanger Pause hat er das Singen in Gemeinschaft neu für sich entdeckt.
Verloren geglaubte Welt wiedergewonnen
Schon wieder das fis in Takt 18! Jens-Uwe Bliesener schiebt seine Ohrhörer in Position. Dann wischt er über den Bildschirm. Wenige Sekunden später glättet sich seine Stirn. Er lächelt. „Das nächste Mal weiß ich Bescheid“, sagt der 75-Jährige, während er seine In-Ear-Kopfhörer in der Tasche verstaut. Jens-Uwe Bliesener nutzt die Pause während der Chorprobe gerne, um sich mit komplizierten Stellen im Stück auseinanderzusetzen. „Oft muss ich mir etwas noch einmal anhören, um es zu begreifen“, erläutert der Sänger. Um sich optimal auf die Konzerte mit der Liedertafel Neustadt vorzubereiten, hat er Aufnahmen der entsprechenden Werke und digitale Übungshilfen nicht nur auf dem heimischen PC gespeichert, sondern auch auf seinem Smartphone – jederzeit griffbereit.
„Das mehrstimmige Singen kann viel mehr aus einem Stück herausholen als ein einzelner Sänger“, ist Jens-Uwe Bliesener überzeugt. „Als ich vor elf Jahren wieder damit angefangen habe, hat sich mir eine musikalische Welt erschlossen, die lange verloren schien.“ Schon als Kind sang er im Schulchor seines Gymnasiums, bis der Stimmbruch einsetzte. „Damit war das Thema Chor für mich vom Tisch“, erinnert sich der Wahlpfälzer, der früher in leitender Funktion bei der Pharma-Tochter eines namhaften Chemiekonzerns tätig war. „Das lag jedoch weniger am Stimmbruch selbst als am damaligen Musikunterricht. Immer nur Klassik, Klassik, Klassik – alles andere galt als minderwertig oder falsch.“ Was folgte, war eine innere Gegenbewegung: Jens-Uwe Bliesener befasste sich viel mit Gospel, Jazz und Folk, brachte sich Ende der 1950er Jahre auf der Gitarre seines Bruders selbst die Griffe bei. „Leider hatte ich in der Nachkriegszeit keine Möglichkeit, mein Wunschinstrument Klarinette zu lernen“, bedauert der passionierte Musiker. „Dafür kann ich noch heute den Wild Cat Blues auf der Blockflöte spielen – aus dem Kopf.“
Ob englisch, irisch oder amerikanisch, ob Folk- oder Protestsongs: Jahrzehntelang spielte Jens-Uwe Bliesener nur zu Hause und allein. Das half ihm, zu entspannen. 2008 entdeckte er den Chorgesang für sich neu. Zunächst fokussierte er sich auf Gospel und Sacro Pop, ehe seine Frau ihn 2015 bei einem Konzert der Liedertafel dazu ermutigte, doch einmal im Chorheim oberhalb der Karolinenstraße vorbeizuschauen. Heute kann sich der 75-Jährige den Mittwochabend gar nicht mehr ohne Chorprobe vorstellen. Harmonie ist ihm sehr wichtig – in der Musik wie im Kontakt mit seinen Mitmenschen. „Hier habe ich beides: das Singen und die Geselligkeit. Das macht für mich den besonderen Liedertafel-Geist aus.“
In den zurückliegenden vier Jahren hat Jens-Uwe Bliesener mit der Liedertafel Neustadt eine Reihe von großen Chorwerken samt Orchesterbegleitung auf die Bühne gebracht, schwungvolle Herrenweinabende und stimmungsvolle Sommernachtsfeste gefeiert. In Erinnerung geblieben ist ihm aber vor allem ein musikalisches Schlüsselerlebnis: „Kaum etwas hat mich je so berührt wie die Messa da Requiem von Giuseppe Verdi, die wir im November 2017 zusammen mit unseren Partnerchören aus Mâcon und Lincoln aufgeführt haben. Auf der Bühne bekam ich Gänsehaut. Das war mehr als ein Konzert: Es war eine Offenbarung!“
Mehr aus der Serie "Mein Chor"
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Das Ohr als Schlüssel zur Musik – Gabi Heiß
Auf der Suche nach der gemeinsamen Stimme – Thomas Böhmer
Dem Klang des Herzens gefolgt – Judith Janson
Autor:Dennis Christmann aus Neustadt/Weinstraße |
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