Kindheitserinnerungen aus Eichelberg
Oje, oh Schreck: der Weiß- und der Schwarzbart

Foto: darkmoon1968/pixabay

Es war der 6. Dezember  — „Sankt Nikolaus“ und sein schwarzer Begleiter, der „Pelznickel“, auch „Pelzmärtel“ oder „Knecht Ruprecht“ genannt, waren angekündigt. Schon wochenlang vorher wurde meinem Freund Edwin und mir angedroht, dass der Knecht Ruprecht uns beide in den Sack stecken und in den dunklen Wald mitnehmen werde.
Wir beide hatten bei der frommen Ordens Kinderschulschwester die meisten „schwarzen“ Strafpunkte gesammelt. Meist, weil wir am Nachmittag partout auf den kleinen Prischen keinen Schlaf fanden.

Was tun? Trübe Gedanken kreisten um das drohende, unvermeidliche Unheil. — Im letzten Moment brav sein und brav schlafen, das nützt auch nichts mehr.
Schrecklich, schrecklich, das Ende naht, das Ende für alle bösen Buben.
Was soll ich tun?
Was nur?
Wie kann ich mein Leben retten?
Gibt es denn gar keine Möglichkeit mehr?
Es muss doch eine Möglichkeit geben, nur eine einzige.
Ja, der rettende Gedanke, die einzige Möglichkeit, der einzige Ausweg.
Einige Tage vor Nikolaustag stenzte (entwendete) ich hehlinger (heimlich) meiner Mutter aus der Schublade ein kleines, spitzes Küchenmesser.
Am Nikolaustag-Nachmittag holte ich das Küchenmesser aus meinem Versteck, steckte es in die Hosentasche und nahm es mit in den Kindergarten. (Das spitze Küchenmesser hielt ich den ganzen Tag über ungesichert in meiner Hosentasche versteckt.)
Die Strafaktion stellte ich mir so vor: Edwin und ich werden in den Sack gesteckt. Der Knecht Ruprecht trägt uns in den nahegelegenen Wald, ins „Burgholz“.
Auf dem Weg dorthin schneide ich zunächst ein kleines Guckloch in den Sack, damit ich weiß, wo wir sind und wo die richtige Stelle zum Entfliehen ist.
Sobald der Knecht Ruprecht den steilen Pfad bzw. die Treppenstufen am „Hexenbusch“ (bei der Kirche) hinunter geht, schlitze ich vorsichtig den Sack vollends auf, und wir hüpfen heraus. Im dichten Hexenbusch können wir uns prima verstecken und abwarten, bis die heiligen Männer über die Himmelsleiter dahin verschwinden, wo sie hergekommen sind. Wir können weiter leben, müssen nicht im Burgholz erfrieren und verhungern.

Der Nikolaustag war da.
Es war soweit: Zwei drohende Gestalten bogen ins Gässel und zum Kindergarten ein. Von weitem hörten wir die schwere Eisenkette klirren.
Das Rasseln kam drohend näher und näher.
Grausig war das anzuhören, ganz so, als gelte es, Schwerverbrecher in Ketten zu legen.
Vorneweg in würdigem Schritt Sankt Nikolaus im roten Bischofsgewand mit langem, goldenem Stab und weißem Bart. Er war der heilige Mann, der alles wusste und der mit dunkler Stimme die braven Mädchen lobte und uns, den bösen Buben, die verdienten Strafen verkündete.
Er, der Sankt Nikolaus, stellte mit dunkler Stimme die Frage: „Seid ihr auch alle schön brav gewesen?“
So eine blöde Frage, wo doch in seinem dicken, goldenen Buch alles aufgeschrieben war.
Hinter dem Weißbärtigen stand drohend der sehr gefährliche Mann, der mit der dunkelbraunen Kutte und mit dem schwarzen Bart
.
Er, der „Pelzmärtel“ — er kramte aus dem Sack für die Mädchen Dambedei, Äpfel, Nüsse und Dörrobst und er führte den Strafvollzug an uns, den bösen Buben, aus.
Er, der Schwarzbärtige, schwang nicht nur die Rute, sondern er hatte inzwischen alle Geschenke verteilt und als Folge einen leeren Sack, einen großen, leeren Sack, der für Edwin und für mich bereit war, und in dem wir in den finsteren, dunklen Wald getragen werden sollten, um dort unsere Sünden zu bereuen und dann elendig zu verhungern und zu erfrieren.
Mein Freund Edwin, ein noch „schlimmerer“ Lausbub als ich, sollte als Erster in den Sack gesteckt werden. Aber leichter gesagt als getan.
Die heiligen Männer packten den Lausebengel. Aber Edwin wehrte sich aus Leibeskräften und schlug wild umher. Er schrie und strampelte wie ein Berserker.
Mit vereinten Kräften versuchten der Schwarzbärtige und der Weißbärtige den tobenden Bösewicht zu bändigen und in den Sack zu stecken. Es gelang ihnen jedoch nur für den halben Buben. Der obere Teil war trotz aller Mühe nicht in den Sack zu bekommen.

Edwin war flink wie ein Wiesel und es gelang ihm immer wieder, sich aus der Umklammerung zu lösen. Er verkrallte seine Hände außen am Sack und widerstand so allen Versenkungsversuchen.
Letztendlich gaben die heiligen Männer erschöpft und erfolglos ihr Unterfangen auf. Edwin wurde aus der misslichen Lage entlassen. Mit mir wollten die zwei bärtigen Himmelsgestalten keinen Versuch mehr wagen.
Vielleicht war es auch gut so?
Mit Kettengerassel und heiligem würdigem Schritt entfernten sich die heiligen schrecklich unheimlichen Weiß- und Schwarzbart aus dem Kindergarten.
Es war nochmals gut gegangen für uns beide, den Edwin und mich.
Das spitze Küchenmesser legte ich heimlich wieder in die Schublade zurück. Mir fiel ein Stein vom Herzen, denn zum Glück hatte es meine Mutter nicht vermisst.
Eichelberg am Nikolaustag 6.Dezember 1937
Erlebt und aufgezeichnet von Kurt Emmerich

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Autor:

Kurt Emmerich aus Östringen

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