Kindheitserinnerungen aus Eichelberg
Tante Emilie erzählt von Weihnachten vor 100 Jahren - als das Christkind Apfelkrapfen schenkte
Als "Tante Emilie" war sie den Eichelberger Einwohnern bekannt und wurde auch von jenen so angesprochen, die nicht mit ihr verwandt waren. Freundlich lächelnd war sie im hohen Alter gut zu Fuß unterwegs, um sich nützlich zu machen, wo sie gebraucht wurde und besonders wo Kinder waren.
Sie liebte den Umgang mit Menschen, vor allem mit jungen. Selbst immer geistig rege, erzählte sie mir recht gern Geschichten aus ihrer Kindheit. Mit ihren Eltern und weiteren fünf Geschwistern wuchs sie in ihrem Geburtsort Eichelberg auf. Ihr Vater verdiente den Lebensunterhalt als „Akkurator“ (Hilfswaldhüter). Für dieses Aufsichtsamt als Staatsdiener erhielt er den Lohn von 1,50 Mark täglich. Ein Brötchen kostete damals vier und ein Kilo Brot 20 Pfennig. Der karge Lohn reichte nicht aus, um die achtköpfige Familie zu ernähren. Beim reichen Herrn Greif, der in Eichelberg umfangreichen Weinbergbesitz hatte, konnte der Vater etwas hinzuverdienen.
Die Mutter musste tüchtig mithelfen, damit zusätzlich Geld in die Haushaltskasse kam.
Der Küchenherd wurde mit Fallholz befeuert
Als Gelegenheitsarbeiterin im Staatswald setzte sie Pflanzen. Das Feuermaterial für den primitiven Herd, der aus Ziegelsteinen und einer Eisenplatte bestand, durfte im Wald nur an bestimmten Tagen, den „Holzlesetagen“ als „Fallholz“ eingesammelt werden.
Als sehr gute Weißzeugbüglerin war die Mutter bekannt. Für das Plätten eines Hemdes aus Leinen mit steifem Kragen, dem "Vatermörder", erhielt sie als Lohn fünf Pfennig. Hatte das Hemd eine steife Brust, wurde der doppelte Lohn bezahlt.
Mit dem Ertrag von wenigen kleinen Äckern und der Milch von drei Ziegen ließ es sich mehr schlecht als recht leben.
Von der glückliche Jugendzeit und von Kommunalmehl
Trotz Entbehrungen erzählt Tante Emilie immer wieder mit freudestrahlenden Augen aus ihrer "glücklichen" Jugendzeit: "Wenn Mutter von der Arbeit aus dem Wald oder Feld zurückkehrte, gab es Brot zu essen, dazu als Belag einen halben Apfel und etwas Ziegenmilch."
Schlecht wurden die Zeiten erst mit dem Ausbruch des ersten Weltkrieges. Tagelang war kein Brot im Haus. Zeitweise gab es kein Essen, weder Brot noch Pellkartoffeln. Einige Gerstenkörner wurden mit etwas Schmalz geröstet, gemahlen und damit der Frühstückskaffee aufgebrüht. Sobald die Getreidefelder abgeerntet waren, mussten wir Kinder wochenlang zum Ährenlesen auf die Felder hinaus, wobei auch von den Äckern des 4 km entfernten Stifterhofes das mühsam zusammengesuchte Brotgetreide heimgetragen wurde. Der Vater drosch hernach das Getreide mit dem Flegel aus.
Für Getreide herrschte Ablieferungspflicht. Auf dem Rathaus musste das Getreide abgeliefert werden. Nur das rationierte Getreide und mit Sondergenehmigung wurde das Getreide zur Mühle gebracht. Der sonstige Bedarf an Mehl, wurde als "Kommunalmehl", an die Familien je nach Bedarf zugeteilt.
„Schee isch domols g’west“ - Tanzen im grünen Wald
Im Alter von 14 Jahren musste Emilie bei der ortsansässigen Zigarrenfabrik Jacobi ihr Geld verdienen. Die Arbeitszeit betrug täglich 6 bis 18 Uhr, samstags bis 17 Uhr. Urlaub oder gar Urlaubsgeld gab es nicht.
Die Akkordarbeit erbrachte bei 65 Stunden einen Wochenverdienst zwischen vier und fünf Mark. Wir Kinder mussten immer fleißig in Haushalt, Weinbergen und Landwirtschaft mithelfen.
Als die Mutter durch einen Schlaganfall gelähmt wurde, musste Emilie als älteste der Geschwister die Fabrikarbeit aufgeben, um die Mutter und den achtköpfigen Haushalt zu versorgen.
"Schee isch die Jugendzeit g‘west", betont Emilie immer wieder. Wir Jugendlichen waren in der Freizeit viel beisammen, machten Spaziergänge. Im Alter von 18 Jahren wurden die Jugendlichen aus der Christenlehre entlassen, danach durften sie tanzen gehen. In Waldlichtungen, im Burgholz oder Kaufwald, wagten die Mädchen und Burschen die ersten Tanzschritte. Dazu spielte Alfred Mildenberger (krumme Alfred) die Ziehharmonika. Eine Mundharmonika als Instrument reichte als Tanzmusikkapelle und zum lustig sein aus. Höhepunkte im Alltag waren die jährlichen Kirchweihfeste und in erster Linie die Jakobifeste.
Gemeinsamer Eingang mit den Hühner
Emilie blieb in ihrem Elterhaus, ein altes Fachwerkhaus (BJ 1700), das neben dem Rathaus stand, wohnen. Das Haus hatte keinen Keller. Im unteren Stock befand sich ein kleiner Stall, daneben eine Scheune. Eine schmale, steile Treppe führte neben der Stalltür aus zu der kleinen, niedrigen, sehr engen Wohnung. Die hohe "Staffel" prägte die Gesamtansicht in der Straße.
Emilie Boppel ist daher auch als "Staffel-Emilie" genannt. Nachdem die Eltern verstorben und die Geschwister verheiratet waren, bewohnte Emilie das Haus allein. Die Staffel und die Fensterbank waren reichlich mit Topfpflanzen geschmückt. Der Hinterausgang führte in den Garten und zum Hühnerhof.
Emilie und die Hühner benutzten denselben Ausgang. War ein Huhn besonders fleißig beim Eierlegen, durfte es im kalten Winter im Wohnzimmer übernachten. Den Lebensunterhalt verdiente sich Tante Emilie mit Gelegenheitsarbeiten, dem Verkauf von Weintrauben und Johannisbeeren. Die Hühnereier dienten nicht nur für den eigenen Verzehr, sondern auch als Tauschobjekt für Zucker und Salz im örtlichen „Kolonialwarenladen.“
Trotzdem, für die Armen hatte sie noch immer etwas zum Verschenken. Viele Jahre reinigte und zierte sie unentgeltlich die Kirche.
Geschenke an Weihnachten und Geburtstage waren Highlights
Nach den schönsten Erinnerungen ihres Lebens befragt, gerät sie ins Schwärmen: "Die schöne harmonische Jugendzeit, Eltern und Geschwister hielten zusammen. Mit vielen Bekannten und Verwandten hatte man reichlich und sehr guten Kontakt. Freud und Leid wurden geteilt. Am schönsten waren in meiner Jugendzeit die Geburtstage. Als Geschenk bekam man ein gesottenes Ei.
An Weihnachten erhielt jedes Kind vom Christkind einen Apfelkrapfen, ein Apfel, der in Brotteig gebacken wurde. Schon das ganze Jahr über schwärmten wir Kinder von dieser leckeren Kostbarkeit", ...das alles erzählte mir die „Tante Emilie“.
Epilog
Emilie Boppel geboren am 13.12.1890 verstarb im Jahre 1989 kurz vor ihrem 100 Geburtstag.
Das Haus, in dem die achtköpfige Familie wohnte, hatte lediglich ein einziges Zimmer, das durch einen Vorhang in die „Kammer“ unterteilt war. Die „Schlafkammer“ war ohne Fenster. Darin schliefen das Ehepaar und ihre zwei Buben.
Von der Eingangstür her führte ein enger Flur auf die Rückseite zu einem kleinen Hühnerhof. Das Ende des Flurs diente als Küche. Von der Küche aus führte eine steile Stiege in ein primitiv eingerichtetes Zimmer im Speicher. Hier schliefen die vier Mädchen in einem spärlichen Raum, direkt unter dem „einfach“ mit Biberschwanzziegeln und Schindeln gedeckten Dach. Die Winter waren damals noch sehr kalt und der Schnee wehte im Winter durch die Ritzen des Dachs in den Raum. Das war damals gar nichts Außergewöhnliches, denn die damaligen Häuser boten kaum mehr Platz für die durchschnittliche Zahl von acht Bewohnern. (Auch meine Mutter erzählte, dass alle acht Kinder in einem Raum im Speicher die Schlafstätte war. Dafür standen nur drei Betten bereit. Geschlafen wurde längs und quer in den Betten. Auch bei ihr wehte im Winter der Schnee ins Zimmer, erzählte meine Mutter öfters.
Aufgezeichnet von Kurt Emmerich
Autor:Kurt Emmerich aus Östringen |
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