Anne-Sophie Perrin kann weder ihre Arme oder Beine kontrollieren noch sprechen. Dank beeindruckender Willensstärke hat sie ihren Platz gefunden – in der Südpfalzwerkstatt und in der Gesellschaft.
Das Auge als Tor zur Welt
„Habt ihr Arbeit für mich?“ Anne möchte das wissen. Doch mit ihrer eigenen Stimme fragen kann sie nicht. Wegen einer Cerebralparese – einer Bewegungsstörung aufgrund einer frühkindlichen Gehirnschädigung – sind noch dazu beide Arme und beide Beine der 18-Jährigen gelähmt. Tetraspastik lautet der Fachbegriff dafür. Die Muskeln der jungen Frau verkrampfen halsabwärts willkürlich. Sie hat keine Kontrolle darüber. Ihr Geist hingegen ist hellwach.
Als Kind konnte Anne-Sophie Perrin, wie ihr voller Name lautet, ihre Wünsche und Bedürfnisse nur eingeschränkt mitteilen. Dafür musste man ihr Entscheidungsfragen stellen. Das ist auch heute noch Teil des Alltags der Halbfranzösin in der Südpfalzwerkstatt in Offenbach an der Queich. „Hast du Durst?“ Lautlos öffnet Anne den Mund. Das heißt „ja“. Ob sie müde ist? Die Lippen bleiben verschlossen. Also nicht.
Annes eigentliches Tor zur Welt aber sind ihre Augen. Vor gut zehn Jahren stieß ihre damalige Ergotherapeutin auf „Tobii“. Seither begleitet dieses Gerät die 18-Jährige im Alltag. Der Spezialcomputer lässt sich an Annes Rollstuhl anbringen. „Tobii“ erfasst ihre Blicke, mit denen sie beispielsweise eine Reihenfolge von Buchstaben auswählt. Ein Lautsprecher verwandelt ihre Worte in Klang. All das ist nicht nur technisch sehr anspruchsvoll, es verlangt Anne auch Tag für Tag einen Kraftakt ab. Jeden Buchstaben muss sie mit den Augen einige Sekunden lang fixieren, bis er ausgewählt ist. Schon leichte Bewegungen der Augen können die junge Frau am Weiterschreiben hindern. Wenn ihre Muskeln verkrampfen, fällt es noch schwerer.
Aber Anne gibt nicht auf. Dank ihrer hervorragenden Auffassungsgabe und ihres unbedingten Willens hat sie 2018 ihren Hauptschulabschluss gemacht, mit einer Eins vor dem Komma. Die Lehrkräfte an Annes Schule, die Therapeuten sowie Monika Rottmeyer von der Beratungsstelle für Unterstützte Kommunikation in Landau haben sehr viel zu ihrer Entwicklung beigetragen und immer an Anne geglaubt. Das hat sie weiter vorangetrieben. 2015 bereitete Anne gemeinsam mit ihrer Mutter einen Vortrag vor, den sie „Tobii“ diktierte und einspeicherte. Anschließend präsentierte sie ihn auf der REHAB, einer internationalen Fachmesse für Rehabilitation, Therapie und Prävention in Karlsruhe.
Ihr damaliges Lieblingsfach? „Frei haben“, scherzt Anne. Ein paar Augenblicke später tönt „Mathe“ aus dem Lautsprecher. Von ihrer Begeisterung für Zahlen profitiert die junge Frau aus Insheim auch bei ihrer Tätigkeit im Berufsbildungsbereich der Südpfalzwerkstatt. Hier arbeitet sie an einem Computer, den sie ebenfalls mit den Augen steuert. Eine Menüleiste am rechten Bildschirmrand ersetzt die Maus. Anne versieht beispielsweise Begleitzettel für Paletten mit entsprechenden Kunden- und Auftragsnummern, Stückzahlen und anderen Angaben. Gleiches gilt für die Beschriftung von Gitterboxen für den Großkunden Daimler. Anschließend druckt die 18-Jährige das jeweilige Word-Dokument aus.
Tatjana Sieghold weicht ihr während der Arbeitszeit nicht von der Seite. Die 51-jährige verfügt über jahrzehntelange Erfahrung im pflegerischen Umgang mit Menschen. Als sie Ende 2018 die Einzelbetreuung übernahm, war es jedoch auch für sie ein großer Schritt. „Von Anfang an hat mich Annes Willensstärke beeindruckt“, betont Sieghold. Schnell haben die beiden Frauen den Draht zueinander gefunden und ein vertrauensvolles Verhältnis aufgebaut. Tatjana Sieghold hilft bei allem, was Anne aufgrund ihrer Beeinträchtigung nicht ohne Unterstützung tun kann – zum Beispiel beim Essen und Trinken oder dabei, sich von einem Ort zum anderen zu bewegen. Außerdem achtet sie darauf, dass Anne genügend Pausen macht. Manchmal erleichtert Tatjana Sieghold auch die Kommunikation mit den Werkstattkollegen. In Annes Arbeit am Bildschirm mischt sich die Betreuerin nicht ein.
Ein Zahlendreher?! Annes Arme zittern. Sie schüttelt den Kopf. Tatjana Sieghold fühlt mit ihr. „Wir sind ein Team und ärgern uns auch gemeinsam“, sagt die 51-Jährige. Wieder einmal waren Annes Augen schneller als der Computer. „Du Affezippel“, lässt Anne den Lautsprecher schimpfen. Die beiden Frauen lachen. Dann korrigiert Anne das Dokument und druckt es aus. Sogar ein paar Flüche hat die 18-Jährige eingespeichert. Doch ihren Humor verliert sie nie. „Ich weiß, was ich sagen will, und kann alles sagen“, erklärt die Tochter einer Südpfälzerin und eines Franzosen stolz. Dabei hat sie auch die Menschen in ihrer Umgebung fest im Blick. „Schuhe wechseln nicht vergessen“, ermahnt Anne ihre Kollegen. Ausrufe wie „Horch emol“ oder „Do stimmt was nit“ vertont „Tobii“ zumindest so pfälzisch, dass die anderen es verstehen. Hin und wieder macht Anne auch mit einem Tusch auf sich aufmerksam.
Um ihrem Ziel, in einer Einrichtung der Lebenshilfe Südliche Weinstraße im Büro zu arbeiten, näherzukommen, trainiert Anne regelmäßig mit eigens dafür konzipierten Spielen. Gelb, grün, gelb, grün, blau, blau, grün, rot: Die junge Frau muss sich gut einprägen, in welcher Reihenfolge der Zauberer Wichu Säfte in seinen neuesten Trank leert – und sie dann mit den Augen auswählen. Einen nach dem anderen. Beim Elfmeterschießen versenkt Anne den Ball zielsicher im Netz. Oder sie bevölkert in einem anderen Spiel eine Savanne mit Löwen, Elefanten und Nashörnern. Dazu muss sie die Wildtiere mit den Augen auf nicht einmal zentimetergroße Sterne verschieben. Höchste Präzision ist gefragt.
Anne liebt Hörbücher und Musik – alles außer Helene Fischer. Zudem genießt sie in ihrer Freizeit Spaziergänge mit ihrer Familie und Kinobesuche. Seit einiger Zeit kann sie sogar den Kurznachrichten-Dienst WhatsApp nutzen. Und das tut sie. „Wie geht es dir? Was machst du?“ Fragen wie diese versendet sie häufig an ihre Freunde und Bekannten. Auf diesem Weg hat Anne auch eine Tochter von Tatjana Sieghold kennengelernt. Diese schloss sie so sehr ins Herz, dass sie die Halbfranzösin zu ihrer kirchlichen Trauung einlud. Die Mutter der Braut gab vor, Anne könne nicht kommen. Als Lisa sie dann plötzlich in der Kirche erblickte, flossen Freudentränen. „Es war ein wundervoller Tag“, erinnert sich Tatjana Siehold, „und Anne ein wichtiger Teil davon.“
Autor:Dennis Christmann aus Offenbach |
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