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Navid Kermani: Wer ist Wir?

An Aufreger-Themen, die abendfüllende Diskussionen befeuern, mangelt es wahrhaftig nicht. Abseits des Stammtischgetuschels über Prinz Harry und Meghan, über’s Dschungelcamp oder über die berufliche Zukunft der Mutter Beimer nach dem Aus für die „Lindenstraße“ gibt’s reichlich wichtigeren Stoff, an dem man sich konstruktiv festbeißen kann und der einen auch selbst bis ins Mark betrifft. Zum unbestrittenen Dauerbrenner gerade in Deutschen Landen zählt fraglos der Bereich Migration und Integration.

Doch bevor es dabei zum besinnungslosen Austausch unreflektierter Parolen kommt, sollte man sich die griffige Sentenz des Psychologen-Meisters C.G. Jung in Hirn zergehen lassen: „Denken ist schwer, darum urteilen die Meisten!“
Einer, der das „Denken vor dem Urteilen“ gelernt hat, ist zweifellos der Kölner Navid Kermani. Der mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnete Journalist und Schriftsteller weiß denn auch genau, wovon er in seinem bereits in wiederholter Auflage erschienenen Buch „Wer ist wir“, erzählt. Kermani, 1967 geboren und aufgewachsen in Siegen als Sohn ausgewanderter iranischer Eltern, wurde demnach schon früh mit der Erfahrung des „Andersseins“ konfrontiert. Doch anders als populistisch und denkträge Kollegen lernte der inzwischen habilitierte Orientalist, der auch Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ist, feinsinnig zu differenzieren. Gerade zum aktuellen Thema der massiven Einwanderung und die daraus folgende Integrationsproblematik schreibt er seit Jahren Texte, die jedem Diskutanten ins Stammbuch geschrieben werden sollten.
Vor allem hinterfragt Kermani hier in seinem Buch die legendäre „Identität“, die nationalstolze Geister zuallererst einfordern. Denn kein Mensch, erst recht nicht ein Deutscher, verfüge über nur eine einzelne Identität und dürfe sich schon gar nicht – bezüglich der Flüchtlinge aus islamisch geprägten Gesellschaften – vehement auf das vermeintlich gefährdete Christentum berufen, das zumindest hierzulande derart säkularisiert sei, dass sogar der frühere Papst zum Medienstar – gleich nach Dieter Bohlen – avancieren konnte…!
Das „Wir“ hier in Deutschland lasse sich nie auf eine einzige wie immer geartete „deutsche“ Identität reduzieren – es gelte zu differenzieren! Und gleichzeitig offen zu sein für Fremdes. Denn „Fremdsein ist keine Krankheit“ und „radikale Offenheit ist ein Wesensmerkmal des europäischen Projektes und sein eigentliches Erfolgsgeheimnis“. Bestünde Köln, so Kermani, der mit seiner Familie im gut funktionierenden und ethnisch kunterbunten Eigelstein wohnt, ausschließlich aus mit rheinischer Frohnatur und Kölsch geimpften Kölnern – es sei ein Grund zur Emigration. „Wenn das WIR aus vielen Kulturen besteht, kann ich nur sagen: Da simmer dabei, dat is prima: Viva Colonia!“.
Doch auch die Schattenseiten der ethnisch und religiös mosaikhaft bunten deutschen Gesellschaft nimmt Kermani - intellektuell bestens geschult - in den Blick. So gebe es - ebensowenig wie DEN christlichen Deutschen – auch nicht DEN Muslim an sich! Bei allen Integrationsbemühungen sei es wenig hilfreich, mit pauschalisierten Vokabeln zu argumentieren.
Ausschließlich die Differenzierung ist es, die der feinfühlige und in vielen Kulturkreisen gebildete Intellektuelle Kermani beschwört. Differenzierung, die jedweden künstlichen „Kulturkampf“ ad absurdum führt und die die offene Gesellschaft, die wir nicht müde werden zu propagieren, letztendlich gelingen lässt. Auch Politiker sollten dieses Kermanische Resümee – gerade auch angesichts des drohenden Terrors derjenigen, die sich unberechtigterweise und sinnlos mit dem religiösen Mäntelchen zu legitimieren hoffen - schnellstens beherzigen. Und umsetzen in politische Praxis. Denn „Wer die Feinde der offenen Gesellschaft bekämpft, indem er die eigene kulturelle Offenheit aufgibt, hat den Kampf bereits verloren“.
Und wer will das schon…

Navid Kermani:
Wer ist wir?
Deutschland und seine Muslime
192 Seiten, Paperback
Verlag C.H.Beck, München
ISBN 978-3-406-68586-6
uba

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Autor:

Udo Barth aus Bad Dürkheim

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