Kirschblüten im Alpensturm
Strauss’ Alpensinfonie im Festspielhaus Baden-Baden

- Foto: Monika Rittershaus
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Schon bevor der erste Ton erklang, lag eine gespannte Erwartung im Raum: Ein Aufeinandertreffen des großen Rachmaninow’schen Erbes mit der klugen Zurückhaltung, die Klaus Mäkelä den Berliner Philharmonikern einzuprägen vermag, und der klaren Präsenz des Pianisten Leif Ove Andsnes. Diese Trias erwies sich als Glücksfall für das selten so unverstellt dargebotene dritte Klavierkonzert von Sergej Rachmaninow.
Im Auftakt setzte Andsnes das berühmte Hauptthema fast kammermusikalisch an – keine Spur von sentimentalem Schmelz, vielmehr technische Brillanz und wohlüberlegtes Abwägen von Klangfarben. Mäkelä ließ das Orchester dabei mit makelloser Präzision in die Kantilenen einschwingen: Eine Uhrwerkhaftigkeit, die zugleich in ihrem Ausdruck zu überwältigen wusste. Man staunte, wie sich unter scheinbar kühler Oberflächengestaltung eine Glut ausbreitete, die von Takt zu Takt spürbarer wurde. Dennoch wirkte die Musik nie überhitzt oder sentimental. Am Ende des ersten Satzes – in jener flüchtigen, sanften Entspannung – zeigte sich eine feine Durchlässigkeit, als ob ein Sonnenstrahl durch dichten Blätterwald fiele. Nichts wirkte aufgesetzt, alles atmete.
Der zweite Satz dehnte sich dann weit in eine fast entrückte Klanglandschaft aus. Doch diese Weite wurde nicht mit überschwänglicher Romantik gefüllt, sondern mit einer erhabenen Klarheit, die gerade durch ihre Zurückhaltung berührte. Andsnes formte seine Läufe schlank, beinahe asketisch, und ließ damit jede Nuance der orchestralen Begleitung aufleuchten. Zwischen Andeutungen und kraftvollen Ausbrüchen entstand ein spannungsreiches Wechselspiel, das niemals ins Laute kippte. Kraftvoll, ohne zu lärmen – so könnte man dieses ideale Zusammenspiel charakterisieren. Genau in dieser Balance zwischen Beherrschung und Leuchten offenbarte sich eine große Meisterschaft: Pianist und Orchester bündelten ihre Kräfte, statt sie auszuspielen, und offenbarten das innere Leuchten des Satzes fast wie in feierlicher Zurückgezogenheit.
Im dritten Satz schließlich schien sich all das angestaute Potenzial zu entladen. Das Thema trat mit einer Dringlichkeit hervor, die deutlich machte, warum man dieses Werk als Prüfstein für Pianisten erachtet: Rasches Tempo, wuchtige Akkorde, hochvirtuose Passagen – und doch blieb die Transparenz gewahrt. Andsnes bewegte sich mit scheinbar müheloser Elastizität über die Tastatur, die Berliner Philharmoniker folgten ihm eng verzahnt, und Mäkelä sorgte dafür, dass keine orchestrale Woge den Solisten zudeckte. Die Dramatik wurde konsequent vorangetrieben, bis kurz vor dem Finale eine letzte, fast atemlose Ruhe einkehrte. In diesem flüchtigen Moment öffnete sich ein Raum voller Leichtigkeit, als würde sich der Klang in gleißendem Licht auflösen, nur um sich sogleich in einer strahlenden Finalapotheose zu sammeln. Diese Strahlkraft war von Wärme durchdrungen, nicht von bloßer Effekthascherei. So endete die mitreißende Reise durch Rachmaninows Klangwelt mit einem Gefühl des inneren Aufatmens, ja beinahe einer verheißenen Hoffnung – nicht nur ein Funken, sondern ein ganzer Sternenhagel, der in die Weite des Festspielhauses hineinleuchtete.
Das Zusammenspiel zwischen Dirigent, Pianist und Orchester geriet dabei zu einer Einheit, deren Natürlichkeit man nur selten erlebt. Mäkelä erweckte den Eindruck, sich tief vor der Interpretation dieses Ausnahmepianisten zu verneigen: Er öffnete klangliche Räume, moderierte die dynamischen Wechsel und schuf so Freiraum für Andsnes’ nuanciertes Spiel. Weit entfernt von jeder Eitelkeit ließ er das Solo glänzen und ließ damit zugleich das Orchester in bester Verfassung erstrahlen. So wurde die Essenz des Konzerts in einer entstaubten und reinen Form dargeboten – ein Geschenk der Wärme, das den Kern dieses Meisterwerks unverstellt offenbarte und das Publikum mit einer Mischung aus Bewunderung und innerer Bewegung entließ.
Richard Strauss’ Eine Alpensinfonie zählt zu den Paradestücken aller großen Orchester – ein gewaltiges Klanggemälde, das 127 Musiker (er)fordert. An diesem Abend bewiesen die Berliner Philharmoniker im Festspielhaus Baden-Baden eindrucksvoll, warum dieses Werk für sie ein ideales Terrain ist. Vom satt grundierten Streicherklang bis zum strahlenden Blech blühte jede Stimme auf. Keine Sektion dominierte ungebührlich, jede Nuance des farbenreichen Orchesters war deutlich zu vernehmen. In den kammermusikalischen Momenten traten solistische Glanzlichter hervor – etwa die Oboe mit ihrem berückend gesanglichen Ton und die Hörner mit weichem, goldenem Schall – und fügten sich doch organisch in das Gesamtklangbild ein. Die Präzision des Zusammenspiels und die ansteckende Musizierfreude der Philharmoniker wirkten geradezu verführerisch . Dieser Klangkörper in Höchstform entführte das Publikum vom ersten Ton an auf eine alpine Höhenwanderung der Extraklasse.
Am Pult stand mit Klaus Mäkelä ein junger Dirigent, der bereits erstaunliche Reife und Vision zeigt . Seine Leitung war zurückhaltend klug und unpathetisch differenziert – frei von jeder Übertreibung, doch das Werk bis in die Tiefe durchdringend. Mäkelä agierte wie ein umsichtiger Bergführer, der die Kräfte sorgsam einteilt: So hielt er das erste große Fortissimo beim Sonnenaufgang bewusst zurück, statt gleich zu Beginn alle klanglichen Register zu ziehen . Diese kluge Disposition zahlte sich aus – die musikalische Großform entfaltete sich stimmig und spannungsvoll bis zum Gipfelpunkt. Jede dynamische Steigerung, jedes Aufflammen der musikalischen Motive war klar durchdacht und dennoch mit natürlicher Empfindung geladen. Mäkelä verzichtete auf effekthascherische Gesten; wo andere Dirigenten in diesem spätromantischen Riesenwerk Pathos auftragen könnten, blieb er bei einer edlen Sachlichkeit, die die Partitur atmen ließ. Dabei verlor er nie die poetische Seele der Komposition aus dem Blick : Er ließ Momente der Ruhe wirken, gab wichtigen Nebenstimmen Gehör und formte die dramatischen Ausbrüche mit Sinn für die übergeordnete Architektur. Dieses Dirigat vereinte Disziplin und Hingabe – man spürte, dass Mäkelä das Stück tief verinnerlicht hat und die Berliner Philharmoniker ihm mit Vertrauen und Brillanz folgten.
Zu Beginn der Alpensinfonie liegt Nacht über der Klanglandschaft – ein dunkel grundierter Teppich aus gedämpften Streichern und Fagotten, aus dem sich allmählich erste Konturen lösen. Mäkelä und das Orchester gestalteten diesen Übergang zur Morgendämmerung mit außergewöhnlicher Sensibilität. In hauchzarten Abstufungen hellte sich der Klangraum auf, bis Strauss’ berühmter Sonnenaufgang in A-Dur leuchtend am Horizont erschien . Doch selbst als die vollen Hörner und Trompeten die ersten Sonnenstrahlen fanfarenartig verkündeten, wirkte nichts lärmend oder plump. Im Gegenteil: Die dynamischen Wellen bauten sich organisch auf, ohne ihren natürlichen Fluss zu verlieren. Mäkelä hielt den orchestralen Glanz anfangs wohldosiert zurück – das Fortissimo strahlte kraftvoll, aber nie grell, sodass der Moment eher majestätisch als überwältigend erschien . Die Berliner Philharmoniker zeigten hier ihre ganze Könnerschaft im Ausformen feinster Klangnuancen: Holzbläserfiguren glitzerten wie Tautropfen im ersten Licht, während die Streicher einen warmen Schimmer ausbreiteten. Dieser Sonnenaufgang geriet so zum Auftakt einer durchdachten Entwicklung – eine musikalische Morgenröte, die statt plakativer Effekte eine Aura verhaltener Erhabenheit verströmte.
Mit fortschreitender „Bergbesteigung“ steigert sich Strauss’ Partitur in immer dramatischere Gefilde. Höhepunkt dieser dramatischen Kurve ist der gewaltige Sturm, in dem sich die Naturgewalten entfesseln. Mäkelä ließ diesen Abschnitt zu einem existenziellen Moment werden: Ein orchestrales Unwetter brach los, bei dem die Philharmoniker alle klanglichen Elemente – peitschende Streicherfiguren, grollende Bässe, gleißende Blechbläser und das Donnern der Schlagwerker – zu einer überwältigenden Klangflut vereinten. Doch trotz der eruptiven Energie blieb die Darstellung klar konturiert; man hatte nie das Gefühl bloßen Lärms, vielmehr hörte man ein engmaschiges Netz von Motiven selbst im Tosen des Orchesters . Inmitten dieses tosenden Höhepunkts ereignete sich – imaginiert durch die poetische Kraft des Augenblicks – eine unerwartete Szene: Vom Himmel der Bühne herab segelte ein einzelnes Kirschblütenblatt, herübergeweht aus Puccinis Madama Butterfly vom Vorabend. Dieses zarte Blütenblatt im Klangorkan war ein berührendes Sinnbild einer transkulturellen Erschütterung: Als ob die Tragik der fernen Geisha Cio-Cio-San einen Augenblick lang die alpine Wildnis streifte. In der Vorstellung des lauschenden Publikums trafen hier zwei Welten aufeinander – das verhaltene Leid einer japanischen Kirschblüte und die brausende Natur des Alpensturms. Dieser kontrastreiche Gleichklang der Bilder verlieh dem Sturm eine zusätzliche seelische Dimension: Man spürte im donnernden Tutti plötzlich auch die Zerbrechlichkeit menschlicher Gefühle inmitten der unbändigen Natur. Es war ein Moment, der unter die Haut ging – existenziell und transzendierend zugleich, wie ein kurzer Blick über den eigenen Kulturhorizont hinweg, ausgelöst durch die Macht der Musik.
So abrupt der Sturm hereinbrach, so überwältigend war die Wirkung der Stille danach. Mit einem Mal zog Mäkelä das Orchester in sich zurück – ein kollektives Innehalten, das zu den ergreifendsten Momenten dieses Abends zählte. Die Musik der Alpensinfonie fand nach dem Gewitter zu einer beispiellosen Innerlichkeit: Zarte Klangfarben, dünn wie Bergluft, traten in den Vordergrund. Aus dem verklingenden Donner erhob sich ein feierlicher Choral der Blechbläser, ein cantus firmus von Trompeten und Posaunen, der den Sonnenuntergang einläutete . Tief innen meinte man Dankbarkeit und Demut zu hören, wenn die ferne Orgel leise den zuvor gehörten Sonnenhymnus aufgriff – als würde die Natur selbst einen grateful homage an den verglühenden Tag entrichten. Mäkelä zelebrierte diese Passage mit fast schon meditativer Ruhe. Die Berliner Philharmoniker ließen jeden Ton atmen; die Streicher sannen in leuchtendem Piano, die Holzbläser hauchten behutsame Motive in den Raum. Die Stille zwischen den Phrasen wurde zum Resonanzboden für Gefühle, die Worte kaum fassen können. In dieser klanglichen Einkehr herrschte völlige Konzentration: Man hätte eine fallende Nadel hören können, so gebannt lauschte der Saal. Als die Nacht schließlich mit einem sanft absteigenden B♭-Moll-Akkord wieder über der Szenerie hereinbrach , schloss sich der Kreis der Tondichtung. Dieser Schluss – ein verklingendes, in die Dunkelheit zurücksinkendes Motiv – geriet in Mäkeläs Interpretation zu einem Moment ehrfürchtiger Stille, der lange nachhallte. Hier war kein Platz für Sentimentalität, sondern für echte, unverstellte Empfindung: Ein musikalischer Atemzug der Seele nach dem Sturm.
Strauss’ Alpensinfonie wurde an diesem Abend nicht nur als Naturschilderung, sondern als tief empfundenes Gleichnis erlebbar. Schon Strauss selbst sah in dem Werk mehr als bloße Programmmusik – für ihn bedeutete es „sittliche Reinigung durch eigene Kraft, Erlösung durch Arbeit, Verehrung der ewigen, herrlichen Natur“ . Diese Idee der persönlichen Läuterung und der Ehrfurcht vor der Schöpfung sprach in Baden-Baden auf eindringliche Weise aus der Musik. In Mäkeläs unprätentiöser, aber beseelter Deutung offenbarte die Alpensinfonie ihre emotionale Aussagekraft für unsere Zeit, ohne dass ein einziges Wort über zeitliche Bezüge verloren werden musste. Die Reise vom Dunkel ins Licht, durch Gefahren hindurch zur inneren Ruhe, gewann eine tiefe Relevanz: In einer Welt voller Hast und Umbrüche erinnert uns Strauss’ Klangodyssee daran, wie notwendig es ist, innezuhalten und auf die Stimme der Natur – und der eigenen Innerlichkeit – zu hören. Das Zusammenspiel von Sturm und Stille, von äußerer Dramatik und innerer Einkehr, bot mehr als historische Klangpracht; es wurde zum Spiegel der menschlichen conditio. Gerade die manchmal zurückhaltende, weise Gestaltung durch Mäkelä ließ die zeitlosen Botschaften zwischen den Notenzeilen hervortreten. So geriet dieser Abend zu einer wahrhaft transzendenten Gipfelerfahrung – musikalisch, emotional und geistig. Die Berliner Philharmoniker und Klaus Mäkelä haben mit ihrer erlesenen Interpretation gezeigt, dass Strauss’ Alpensinfonie auch heute noch wie ein mächtiges Echo aus der Vergangenheit zu uns spricht, uns berührt und bereichert – ohne jedes Pathos, dafür mit umso größerer Wahrhaftigkeit und Schönheit.
Autor:Marko Cirkovic aus Durlach |
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