Ein kleines Stück Himmel auf Erden
Cornelius Meister dirigiert Bruckners 8. Sinfonie

Foto: Matthias Baus

In der prall gefüllten Liederhalle, in der das Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung von Cornelius Meister antritt, entfaltet sich an diesem Vormittag ein ungewöhnliches, ja beinahe metaphysisches Spannungsfeld zwischen Moderne und Spätromantik. Der Dirigent hat ein Programm gewählt, das nicht nur kontrastreiche Musik präsentiert, sondern auch klangliche Philosophien aufeinanderprallen lässt: Pierre Boulez’ „Notations für Orchester“ und Anton Bruckners monumentale Achte Sinfonie in c-Moll.

Zu Beginn erklingen die pointillistisch aufgebauten, in ihrer Dichte und komplexen Farbigkeit geradezu labyrinthhaften „Notations“ von Boulez. Hier treibt die Geste des Orchesters in einem kaleidoskopischen Spiel von Klangflächen, irrlichternden Rhythmen und statuarisch wirkenden Klangfaltungen. Cornelius Meister lässt diese hochkonzentrierte, strukturalistische Musik mit feiner Präzision ausloten, ohne jedoch ihre kühl-intellektuelle Distanz durch allzu expressive Gesten zu verwässern. Überraschend ist die äußere Szenerie: In der Reihe des Publikums liegt ein Blindenführhund, der während dieses filigranen, komplexen Stückes nahezu regungslos verweilt, von der hypernervösen Klangarchitektur scheinbar unbeeinflusst bleibt. Diese Beobachtung ist zugleich trivial und tiefsinnig: So intensiv Boulez’ Notations auch auf den menschlichen Intellekt und den Sinn für mikroskopische Klangbewegungen zielen, kann man sich fragen, ob diese Musik ohne die kulturelle Prägung des Hörenden ins Leere driften mag – ob sie nicht, wie der Hund, an uns vorbeistreicht, ohne emotionale Spuren zu hinterlassen. Vielleicht sagt das alles, vielleicht nichts. Die Klangideen Boulez’ schweben dennoch im Raum, brillant ausgeführt, über den Köpfen des Publikums wie ein intellektuelles Puzzle, das nicht gelöst werden muss, um Wirkung zu entfalten.

Mit Anton Bruckners Achter Sinfonie öffnet sich dann ein völlig neuer Raum: eine musikalische Kathedrale, deren Pfeiler tief in der Erde gründen und deren Gewölbe sich ins Unermessliche weiten. Schon der Beginn des ersten Satzes keimt langsam aus dem Nichts hervor, als würde Meister aus dem Schweigen selbst Klang meißeln. Der Dirigent modelliert diese Klangmassen mit außergewöhnlicher Geduld, führt die Streicher behutsam in hauchzarte Pianissimi, lässt einzelne Holzbläserlinien aufglühen und spürt im tiefen Blech jenes Dunkel, aus dem Bruckners leuchtende Höhepunkte wie Sonnenstrahlen emporbrechen. Jedes Detail erfährt Aufmerksamkeit, und so entsteht ein Sound, der nicht nach showhaftem Effekt strebt, sondern nach innerer Wahrhaftigkeit. Die Kontraste zwischen äußerster Zurücknahme und eruptiven Fortissimo-Passagen erzeugen ein beinahe archaisches Erleben: Aus dem leisen Hauch formen sich Konturen, die sich dann majestätisch aufbäumen, um gleich darauf wieder in zarte Stille zurückzutreten.

Nach einer langen, beinahe meditativen Pause, setzt der zweite Satz mit energischer Vitalität ein. Hier flimmert ein pulsendes Leben, ein organischer Herzschlag der Musik. Der Rhythmus drängt voran, die Holzbläser zeichnen filigrane Ornamente, die Blechbläser fügen strahlende Kanten hinzu. Trotz der Expressivität bleibt das Spiel des Orchesters bis in kleinste Nuancen präzise, jeder Impuls sitzt. Die Musik oszilliert zwischen lyrischen Momenten von fast frühlingshafter Heiterkeit und kontemplativen Rückzügen, es entsteht ein stetes Kommen und Gehen von Empfindungen. Der Satz vermittelt weder Hektik noch Beliebigkeit, vielmehr ein freudiges Erwachen, das von innerer Ruhe getragen wird. Kein Augenblick der Langeweile: Die Musik atmet, dehnt sich, zieht sich zurück, entfaltet sich neu. Dieser zweite Satz schärft den Blick darauf, wie Orchester und Dirigent gemeinsam wie ein lebendiger Organismus agieren.

Der dritte Satz, der langsamste der Sinfonie, bildet den Herzraum dieses gewaltigen Werkes und ist zugleich sein seelischer Mittelpunkt. Hier gelingt Cornelius Meister und dem Staatsorchester eine Darbietung von seltener Innigkeit und spiritueller Tiefe. Aus einem schattenhaften Pianissimo schält sich ein Klang, der wie ein zart glosendes Glühwürmchen in einer nächtlichen Waldlichtung anhebt, um allmählich in eine immer größere, aber niemals aufdringliche Leuchtkraft hinein zu wachsen. Die Streicher entfalten einen samtenen, warmen Schmelz, in den sich Hörner und Wagner-Tuben wie ferne, erdige Stimmen mischen – als stiegen sie aus uralten, verborgenen Quellen empor. Die Flöten zeichnen helle Linien, die sich wie Lichtstreifen an einer dämmrigen Himmelsscheibe entlangziehen, während die Oboen und Klarinetten zarte, menschliche Anmutungen von Nostalgie und Sehnsucht in den Raum atmen.

Es ist, als ob sich in diesem langsamen Satz die Zeit selbst dehnt: Jeder Akkord ein Atemzug, jeder Übergang ein Schritt in tiefergehende Erkenntnis. Die Musik wirkt hier wie ein Spiegel für innere Zustände, erfüllt von kontemplativer Weite, in der sich Melancholie, Ruhe und eine beinahe metaphysische Erhabenheit verbinden. Man spürt das Vibrieren der Saiten in den Streichern, die mit kaum wahrnehmbaren, aber doch entscheidenden Nuancen arbeiten, um dem Klang eine innerliche Glut zu verleihen. Der Raum selbst scheint sich zu weiten, die Grenzen zwischen Hören, Fühlen und Träumen verschwimmen. Kein Moment ist hier dekorativ, kein Motiv bloßer Zierrat – vielmehr scheint jede Phrase ein Stückchen Wahrheit über die menschliche Existenz preiszugeben. In diesen langen, schimmernden Bögen offenbart sich Bruckners Musik als sakrale Kunst ohne Worte, als ein Stillwerden der Welt, in dem die Seele aufhorcht. Das Crescendo, das sich aus diesen Tiefen erhebt, gipfelt schließlich in einem Ausbruch, der wie ein innerer Befreiungsschlag wirkt, bevor sich die Musik wieder in besinnliche Gefilde zurückzieht. Gerade in diesem Kontrast gewinnt der dritte Satz eine beinahe transzendente Strahlkraft.

Der vierte Satz schließlich kontrastiert diese intime Sphäre durch majestätische Wucht und triumphale Größe, ohne je oberflächlich zu werden. Hier greift Meister die thematischen Stränge auf, verwebt sie mit großer Ruhe und Selbstverständlichkeit zu einem organischen Finale. Die massiven Fortissimo-Blöcke stehen nicht für platte Effekte, sondern wirken wie Steinsäulen, die das musikalische Gebäude tragen. Und über all dem schweben Bruckners unvergleichlich archaisch-schöne Melodien, die wie Lichtbahnen durch die Kathedrale dieses Werkes laufen. Der Klang steigert sich, hebt an, sinkt wieder, um erneut zu erblühen. Meister vermeidet jede forcierte Theatralik, er lässt die Klänge natürlich atmen und entfaltet so die volle sinnliche und geistige Pracht dieses Satzes.

Am Ende des Konzertes, nach dem Finale, entsteht ein Augenblick atemloser Stille. Sekunden, in denen der Saal und Publikum das Erlebte sammeln, als könnte man die gerade verklungene Größe noch greifbar vor sich sehen. Dann bricht der Applaus los – warm, dankbar und befreit. Was an diesem Vormittag in der Liederhalle geschah, ist mehr als nur ein Konzert: Es ist eine klangliche Reise gewesen, ein Eintauchen in Welten zwischen kühler, analytischer Schönheit und zutiefst menschlicher Emotionen.

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Autor:

Marko Cirkovic aus Durlach

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