Zwischen Dunkelheit und Licht
Currentzis begeistert im Festspielhaus Baden Baden
Das unermüdliche Klatschen des Publikums im Festspielhaus Baden-Baden, das bis zum vollständigen Erscheinen aller darstellenden Künstler auf der Bühne andauert, scheint endlos zu dauern, denn das Utopia-Orchester ist groß, groß auch der Dirigent selbst. Teodor Currentzis betritt unter Applaus und etwas Jubel die Bühne.
Jay Schwartz
Passacaglia – Music for Orchestra IX
Wie vermag man ein neues musikalisches Werk angemessen zu beschreiben? Die erste Assoziation, die mir in den Sinn kommt, ist die überwältigende und tief beeindruckende Wirkung, die es entfaltet—eine Wirkung, die sowohl körperlich spürbar als auch geistig ergreifend ist. Das Werk eröffnet sich, ähnlich wie viele zeitgenössische Kompositionen, in einer Stille, die jedoch nicht einfach die Abwesenheit von Klang ist, sondern ein vibrierendes Potenzial, aus dem sich allmählich langsame rhythmische und komplexe harmonische Wellen manifestieren.
Handelt es sich hierbei tatsächlich um Wellen im herkömmlichen Sinne? Oder könnten es nicht vielmehr die sanften, rhythmischen Schläge von gewaltigen unsichtbaren Flügeln sein, die den Raum durchqueren und dabei einen Hauch des Überirdischen vermitteln? Vielleicht ist es das tiefe, beruhigende Atmen der Natur selbst, das uns mit der Ursprünglichkeit des Seins verbindet und uns in einen Zustand meditativer Kontemplation versetzt. Oder vielleicht ist es ein pulsierender Herzschlag, der das Werk mit Leben erfüllt und ihm eine organische, lebendige Qualität verleiht—ein Herzschlag, der synchron mit dem des Zuhörers zu schlagen scheint und so eine intime Verbindung zwischen Musik und Mensch herstellt.
Aus diesen anfänglichen Klanggebilden entfalten sich schichtweise komplexe Strukturen. Die metaphorischen Flügelschläge transformieren sich in Glissandi, die an die geschmeidigen, gleitenden Übergänge erinnern, die man möglicherweise aus älteren Filmen kennt, insbesondere wenn das ikonische THX-Logo erscheint. Doch in dieser musikalischen Darbietung erscheinen diese Glissandi unendlich langgezogen, fast ins Unendliche ausgedehnt, als wollten sie die Grenzen der Zeit selbst überschreiten. Sie erzeugen einen Sog, der einen in unbekannte Tiefen zieht, in eine Sphäre jenseits des Rationalen.
Und dann geschah das Unvermeidliche: Meine Gedanken drifteten ab, getragen von diesen schwebenden Klängen in eine Welt zwischen Realität und Imagination. Unmittelbar vor dem Konzert erhielt ich die Nachricht von einem Freund, der heute unglücklicherweise die Treppe gestürzt war. Plötzlich waren meine Gedanken vollständig bei ihm—seiner Verletzlichkeit, seinem Schmerz. Die Musik schien mich gedanklich dorthin zu tragen, als ob sie eine Brücke zwischen meinem Bewusstsein und seinem Leiden schlüge. Ein Gefühl des Unbehagens überkam mich in Bezug auf die Musik. Es war, als ob sie die verborgensten Ängste und Sorgen an die Oberfläche brachte, als ob sie einen Spiegel vorhielte, in dem man die eigenen Unsicherheiten und Verwundbarkeiten erkennen musste.
Mit Nachdruck behaupte ich, dass dies eine Musik ist, die der Seele nicht guttut—zumindest nicht im Sinne von Trost oder Erbauung. Es ist Musik, geboren aus den tiefsten Schatten der Dunkelheit, im Herzen der Finsternis, und gerade deshalb besitzt sie eine solch beeindruckende und tiefgründige Wirkung. Sie konfrontiert uns mit dem Unaussprechlichen, mit den Abgründen unserer eigenen Existenz und zwingt uns, uns damit auseinanderzusetzen. Für diese unglaubliche Wirkung kann man sich nur wünschen, dass dieses Werk nicht in irgendwelchen Schubladen verschwindet, sondern wiederaufgenommen und weiter erkundet wird. Es ist ein wichtiger Beitrag zur zeitgenössischen Musik, der es verdient, gehört und diskutiert zu werden.
Gustav Mahler
Sinfonie Nr. 5
Eine Sinfonie von Gustav Mahler bedeutet die Welt, nichts Geringeres als das. Sie ist ein Universum aus Klang, Emotion und tiefer philosophischer Reflexion—sie verkörpert die Essenz des Menschseins, die Suche nach Sinn und die Auseinandersetzung mit den existenziellen Fragen unseres Daseins. Als die Trompete an jenem Abend so präzise einsetzte—nicht markant im herkömmlichen Sinne, sondern auf eine Art und Weise, die anders war, vielmehr mühelos, schwebend und irgendwie selbstverständlich—schien sich etwas völlig Neues mit etwas Altem zu verschmelzen. Es war, als ob die Zeit für einen Moment stillstand, um diesen einzigartigen Klang zu würdigen.
Es fühlte sich an, als würde ich Mahlers Fünfte Sinfonie zum allerersten Mal erleben, obwohl ich sie bereits unzählige Male gehört hatte. Diese Interpretation unterschied sich fundamental: Sie klang anders, sie fühlte sich anders an. Sie war gleichzeitig gewaltig und sanft, eindringlich und zurückhaltend. Die Musik bewegte sich in eine neue Tonalität, in eine innovative Aufführungspraxis, und eröffnete einen vollkommen neuen Blickwinkel auf Mahlers Werk. Es war, als ob Currentzis einen Schleier gelüftet hätte, der bisher unbekannte Facetten der Sinfonie enthüllte.
Die Musik dehnte sich bis in die Extreme aus—von intensiver Sanftheit, die wie ein Flüstern durch den Saal schwebte, bis hin zu brutaler Gewalt, die wie ein Sturm über das Publikum hereinbrach. Durchzogen von ausgefeilter Artikulation und komplexer Dynamik, schuf das Orchester eine Klanglandschaft von unbeschreiblicher Tiefe und Vielfalt. Die Töne wirkten neu und unerhört, als wären sie noch nie zuvor gehört worden, als ob sie direkt aus der Seele Mahlers zu uns sprachen, ungefiltert und rein.
Zwischenzeitlich stellte ich mir die Frage: Ist das wirklich Mahler? Ist es erlaubt,
die alten Hörgewohnheiten so infrage stellen? Doch ich bemühte mich, meinen rationalen Verstand abzuschalten, mich ganz der Erfahrung hinzugeben. Es konnte nichts Besseres geschehen, denn es war ein wahrhaftiges Geschenk. Es gibt kaum etwas Erfüllenderes, als ein Stück Musik zum ersten Mal zu erleben—genau das erlebte ich an diesem Abend.
Es war unglaublich, musikalisch tiefgründig und abwechslungsreich, eine Reise durch emotionale und klangliche Landschaften, die von düsteren Tälern bis zu erhabenen Gipfeln reichte. Die Zeit schien sich förmlich auszudehnen; jede Sekunde wurde intensiv erlebt und wahrgenommen, jeder Klang eröffnete eine eigene Welt. Es war, als ob die Musik die Grenzen zwischen Künstler und Zuhörer auflöste und eine gemeinsame Sphäre des Erlebens schuf. Dieses Konzert war nicht nur eine Darbietung, sondern ein Dialog—eine tiefgreifende Kommunikation ohne Worte.
Und dann, im vierten Satz, kehrte Mahler zurück—oder vielleicht fand ich zu ihm zurück. Plötzlich wurde die Musik so klar, so emotional greifbar. Im vierten Satz entstand ein paradiesischer Zustand, der transzendierte in einen längst vergessenen Traum von wahrer innerer Ruhe und Frieden. Die Streicher sangen mit einer Wärme und Innigkeit, die das Herz berührte und die Seele streichelte. Es war, als ob alle zuvor aufgewühlten Emotionen sich in diesem Moment auflösten und einem Gefühl tiefer Harmonie Platz machten.
Das Finale selbst hätte Mahler vermutlich ein zufriedenes Lächeln ins Gesicht gezaubert—so feierlich, so grandios, als ob es den gewonnenen Frieden und die erlangte innere Ruhe zelebrieren würde. Die thematische Entwicklung kulminierte in einem triumphalen Höhepunkt, der gleichzeitig erhaben und demütig wirkte. So überwältigend großartig und doch so feinfühlig. Es war ein Abschluss, der nicht nur das Werk abrundete, sondern auch eine Art kathartische Befreiung bot.
So endete diese Sinfonie, die sich weit über eine bloße musikalische Darbietung hinaus anfühlte; sie war eine bahnbrechende Interpretation, die traditionelle Grenzen sprengte und neue Horizonte eröffnete. So etwas erlebt man nicht oft, und es bleibt lange nach dem letzten Ton in der Seele nachwirkend. Es war, als ob ein neues Kapitel in der Rezeption von Mahlers Werk aufgeschlagen worden wäre—eines, das zukünftige Interpretationen beeinflussen könnte.
Innerhalb von nur wenigen Sekunden erhoben sich die ersten Zuhörer mit stehenden Ovationen. Auch ich selbst wurde relativ schnell emporgerissen, bewegt von der Intensität und Tiefe des Erlebten. Innerhalb einer Minute stand die Hälfte des Saals auf, gefolgt von den restlichen Anwesenden, und das völlig zu Recht. Diese Begeisterung, dieser innere Drang, der nach einem solchen Erlebnis empfunden wird, ist unbeschreiblich. Es war eine ausgelassene, freudige Stimmung, erfüllt von einer tiefen emotionalen Resonanz, die alle Anwesenden zu verbinden schien. Es war laut, genau wie die Interpretation selbst, die eine kraftvolle Präsenz und Ausdruckskraft besaß.
Und wie die Interpretation selbst musste auch hier ein Kontrast entstehen. Und tatsächlich manifestierte er sich in Form einer Zugabe. Man fragt sich, was man nach einer solchen Darbietung von Mahler, nach einer solch meisterhaften und herausfordernden Interpretation seiner Fünften Sinfonie, noch präsentieren könnte. Wie kann man die Zuhörer wieder auf den Boden der Realität zurückholen, ohne den Zauber des Erlebten zu zerstören?
Ein einfaches Wort, ein Name: Bach… Johann Sebastian Bach: „Jesus bleibet meine Freude“ aus der Kantate „Herz und Mund und Tat und Leben“ BWV 147. gespielt und gesungen vom Utopia-Orchester.
Autor:Marko Cirkovic aus Durlach |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.