Falsche Corona-Fallzahlen?
Wie zuverlässig und aktuell sind die amtlichen Corona-Statistiken?
Am Freitag, 27. März 2020 waren dem Landesuntersuchungsamt (LUA) Rheinland-Pfalz und dem Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie Rheinland-Pfalz (MSAGD) für den Landkreis Cochem-Zell (LK COC) lediglich 41 Corona-Fälle gemeldet, tatsächlich war aber die Anzahl wesentlich höher, nämlich 87 Corona-Fälle.
In der Statistik zu diesen Fällen waren auf der Webseite der Kreisverwaltung Cochem-Zell am 27.03.2020 bereits 87 positiv getestete COVID-19-Fälle offiziell gemeldet, mehr als doppelt so viele als in den beiden anderen Statistiken des Landes RLP. Die Zahl 41 tauchte im Balkendiagramm des Kreises Cochem-Zell überhaupt nicht auf und wurde bereits am 20.03.2020 mit 43 positiv gemeldeten Fällen überschritten.
Warum sind tagesgenaue Statistiken überhaupt wichtig?
Mit ihnen kann die Wirksamkeit bzw. Unwirksamkeit von Maßnahmen, Verhaltensänderungen und auch Ursachen von plötzlich stark steigenden Fallzahlen erklärt werden, wenn z.B. einige Tage vor dem Anstieg eine oder mehrere größere Veranstaltungen statt gefunden haben, bei denen sich viele Menschen infiziert haben. Dadurch kann man auch die Inkubationszeit besser erforschen und weitere wirksame Maßnahmen zur Prävention und Weiterverbreitung von COVID-19 einleiten.
Schauen wir uns nun Schritt für Schritt an, wie die Infektion nach heutigem Kenntnisstand abläuft und wie die derzeitigen Meldeketten sind. (Quellen: RKI COVID-19 Steckbrief, RKI COVID-19 Dashboard)
- Infektion mit COVID-19, das Virus gelangt über Mund/Nase/Auge in den Körper.
- Tag 1-14: Inkubationszeit ohne Symptome (im Mittel 5-6 Tage)
- Tag 2-15: Beginn von Symptomen (Infektiosität ab 1. Tag nach der Infektion - bzw. ein Tag vor Symptombeginn - bis 4 - 8 Tage nach Symptombeginn). Viele Infektionen verlaufen ohne Symptome, aber man kann dennoch andere infizieren.
- SARS-CoV-2-Virus-Nachweistest: 2-14 Tage nach Infektion oder 1-8 Tage nach Symptombeginn
- Sammlung, Weiterleitung, Auswertung des Tests: ab 3 Stunden bis 2 Tage
- Meldung der positiven Ergebnisse durch das Labor oder den Arzt an das zuständige örtliche Gesundheitsamt: unter 1 Stunde bis 24 Stunden
- Veröffentlichung der vorliegenden Ergebnisse durch das örtliche Gesundheitsamt oder Stadtverwaltung/Landkreis: ein bis zweimal pro Werktag (Mo-Fr), oft auch am Wochenende (Sa-So)
- Prüfung jedes einzelnen Ergebnisses durch das örtliche Gesundheitsamt und Eintragung in die Meldesoftware des RKI: unter 1 Stunde bis 24 Stunden (oder mehrere Tage?)
- Daten-Übermittlung durch das örtliche Gesundheitsamt an die Landesgesundheitsbehörde des Landes (in RLP: an das LUA): mehrmals pro Tag
- Daten-Übermittlung durch die Landesgesundheitsbehörde LUA an das Robert-Koch-Institut: zweimal pro Tag
- Daten-Übermittlung durch die Landesgesundheitsbehörde an das zuständige Landesministerium (in RLP: MSAGD): einmal pro Tag, in RLP um 10 Uhr
- Die Pressestelle des zuständigen Landesministeriums (in RLP: MSAGD) verfasst aus den gemeldeten Daten eine Pressemitteilung: einmal pro Tag zwischen 10 Uhr und 18:30 Uhr.
Eine ausführliche Beschreibung der amtlichen Meldekette findet sich auch unter SWR Aktuell.
Zwischen einer Infektion bis zur Sichtbarkeit in der Statistik vergehen mehrere Tage, im Schnitt etwa 10-20 Tage. Außerdem sind die Behörden zurzeit ausgelastet oder überlastet und müssen Prioritäten setzen, d.h. sich in erster Linie um die Infizierten, Ermittlung von Kontaktpersonen und Maßnahmen zur Eindämmung kümmern. Daher kommt es in besonders betroffenen Regionen zu teils starken zeitlichen Verzögerungen bei der Verarbeitung und Übermittlung der Daten, dem Übermittlungsverzug. Die Daten werden in diesem Fall nachträglich taggenau in die Datenbank des RKI eingepflegt. Die bereits veröffentlichten Pressemitteilungen des LUA oder MSAGD werden allerdings nicht nachträglich korrigiert, weil das nicht zulässig ist.
Wann kann ein Virustest negativ sein, obwohl man infiziert ist/war? Wenn der Test zu früh oder zu spät durchgeführt wird, dann haben sich die Viren entweder noch nicht vermehrt oder man kann sie nicht mehr im Rachen feststellen, weil die Krankheit zu weit fortgeschritten oder ausgeheilt ist. Auch wenn die Testung falsch durchgeführt wurde, z.B. durch fehlerhafte Selbsttestung, kann der Test negativ sein, obwohl man infiziert ist.
Warum sind die Fallzahlen teils sehr unterschiedlich? Es hängt von der Quelle ab, die man verwendet, zudem vom Zeitpunkt. Dadurch kommt es zu unterschiedlichen Zahlen, die sich nach einigen Stunden oder Tagen für den betreffenden Tag angleichen. Jede Fallzahl ist ein Blick in die Vergangenheit, nämlich wer sich vor 10-20 Tagen infiziert hat. Deswegen schlagen sich die eingeleiteten Maßnahmen erst nach 10-20 Tagen (im Mittel nach 15 Tagen) in der Statistik nieder. Die Statistik vom 29. März zeigt also, wer sich am 14. März (oder kurz davor oder danach) infiziert hat. Das war der Tag, an dem die Schließung von Bars, Nachtclubs und Kinos in einzelnen Bundesländern begann. Einschränkungen des Einzelhandels begannen am 18. März, was sich etwa ab dem 1. April auf die Statistiken auswirkt. Die Einschränkungen der Kontakte gelten seit dem 23. März. Diese Maßnahme wird sich daher ungefähr ab dem 6./7. April in den Corona-Statistiken Deutschlands zeigen, wenn sie wirksam sind.
Um den großen Unterschied zwischen den am 27. März gemeldeten 41 Fällen in den Statistiken des LUA und MSAGD und den 87 festgestellten Fällen des LK COC zu klären, wurden die drei Behörden am 28. März 2020 per Email mit den folgenden Fragen angeschrieben. Wenn die Antworten dazu vorliegen werden sie an dieser Stelle veröffentlicht. Eine Erklärung für die hohe Fallzahl im LK COC liegt wohl auch darin, dass eine zehnköpfige Reisegruppe Anfang März in Ischgl war. Alle 10 wurden positiv getestet und begaben sich sofort nach der Rückkehr in Quarantäne.
- Wie lassen sich diese unterschiedlichen Angaben erklären?
- Wurden die Daten nicht weiter gegeben oder wurden sie in den empfangenden Behörden falsch erfasst?
- Ist das ein Einzelfall oder kommt das häufiger auch bei anderen Städten und Landkreisen vor?
- Wie wirkt sich das auf die offizielle Statistik des Robert-Koch-Instituts aus?
- Waren auch dort die Fallzahlen für den Landkreis Cochem-Zell und damit Rheinland-Pfalz zu niedrig?
- Mit 146,1 positiv getesteten Fällen pro 100.000 Einwohner liegt der Landkreis an erster Stelle in Rheinland-Pfalz. Wie lassen sich diese überdurchschnittlich hohen Fallzahlen für den Kreis Cochem-Zell erklären?
Die Pressesprecherin des MSAGD RLP hat bereits kurz nach der Anfrage am 28. März geantwortet:
"um eine einheitliche Berichterstattung zu gewährleisten, gibt das Gesundheitsministerium ausschließlich in der Meldesoftware des RKI übermittelte laborbestätigte Fälle einer COVID-19 Erkrankung mit Meldeadresse in Rheinland-Pfalz bekannt. Diese werden von den Gesundheitsämtern über die Landesmeldestelle beim Landesuntersuchungsamt an das Robert Koch-Institut übermittelt. Da die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gesundheitsämter vor Ort besonders am Wochenende in erster Linie mit der Ermittlung von Kontaktpersonen und Quarantänemaßnahmen gebunden sind, erfolgen die Meldungen zum Teil zeitverzögert.
Das Land versendet täglich eine zusammenfassende Meldung mit allen Zahlen, die bis 10 Uhr am jeweiligen Tag eingegangen sind."
Bewertung dieser Antwort: Dies ist eine allgemeine Aussage zur Meldekette, die sich nicht auf den konkreten Fall und sich nicht auf die einzelnen gestellten Fragen bezieht, außer der ersten Frage. Sie erklärt auch nicht den extremen Sprung in der Tabelle vom MSAGD von 41 auf 87 innerhalb eines Tages. Abschließend lässt sich sagen, dass das MSAGD sich ganz am Ende der Meldekette befindet und somit die gestellten Fragen wahrscheinlich nicht beantworten kann. War es vielleicht der internationale Frauentag mit der Abendveranstaltung, der wie auch an vielen anderen Orten am 8. März im Kapuzinerkloster Cochem gefeiert wurde oder war es das Kabarett am gleichen Ort drei Tage später? Wenn es möglich ist die Infektionsketten zurückzuverfolgen, könnte man diese Frage klären.
Am Montag früh, 30.3. kam vom LUA folgende Antwort:
"ja, es gab in den vergangenen Tagen immer wieder abweichende Fallzahlen aus einzelnen Kommunen. Die Erklärung von Frau Schneider aus dem MSAGD ist sicher ein Grund dafür.
Stand heute Morgen verzeichnen wir für den Kreis Cochem-Zell 99 positive Nachweise. Im Laufe des Tages werden Sie die aktualisierten Fallzahlen für Rheinland-Pfalz an den gewohnten Stellen nachlesen können.
Wir sind die landesweite Meldestelle für Rheinland-Pfalz; d.h. wir sammeln die Zahlen aller rheinland-pfälzischen Kommunen und geben sie an das Robert Koch-Institut weiter. Das RKI hat also keine andere Zahlen als das LUA."
Bewertung dieser Antwort: Beantwortung eines Großteils der o.g. Fragen, soweit eine Beantwortung zu diesem Zeitpunkt wohl möglich war.
Vom LK COC kam am Montag Nachmittag, 30.3. folgende Antwort:
"das Gesundheitsamt meldet die laborbestätigten Fälle einer COVID-19-Erkrankung über die zentrale Meldesoftware des RKI. Kurzzeitig gab es bei der Erfassung in der Meldesoftware Schwierigkeiten, die zwischenzeitlich jedoch behoben sind. Aktuelle Differenzen ergeben sich auch aus der Tatsache, dass die zusammenfassende Meldung an das Robert-Koch-Institut durch das Land auf der Grundlage der bis 10 Uhr am jeweiligen Tag eingegangenen Zahlen erfolgt; die Veröffentlichung der Fallzahlen auf der Homepage des Landkreises jedoch auf dem Stand 18 Uhr eines jeden Tages beruht. Die vergleichsweise hohen Fallzahlen sind insbesondere darauf zurück zu führen, dass einige Skigruppen Mitte März aus Österreich in den Landkreis zurückgekehrt sind. Zu diesem Zeitpunkt war Österreich nicht als Risikogebiet eingestuft und es gab auch noch keine weitreichenden Maßnahmen zur Kontaktreduzierung."
Bewertung dieser Antwort: Zusammen mit den anderen Stellungnahmen sind somit alle Fragen beantwortet und man kann sich ein Bild machen, warum es zu einer Verzögerung bei der Übermittlung und erhöhten Fallzahlen kam.
Schlussbemerkung des Verfassers: Ich möchte an dieser Stelle allen besonders danken, die sich über ihre Grenzen hinaus an der Bekämpfung der Corona-Pandemie einsetzen. Besonderen Dank an alle ehrenamtliche Helfer und Mitarbeiter in den Behörden.
Autor:Frank Behr aus Haßloch |
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