"Aktionstag Suchtberatung" mit Appell an die Landesregierung in Rheinland-Pfalz
In vielen Regionen droht aufgrund fehlender Finanzierung das Aus
Germersheim. Suchtberatung ist während der Corona-Pandemie wichtiger denn je. Doch die wertvolle Arbeit geschieht meist im Stillen, was im Hinblick auf die Vertraulichkeit der Beratungen gut ist, im Bezug auf Lobby und politische Unterstützung aber auch von Nachteil sein kann. Unter anderem, wenn es um die Finanzierung der Suchtberatung geht. Diese ist seit Jahren derart unzureichend, dass viele Suchtberatungsstellen in ihrem Bestand akut gefährdet sind.
Daher hat man sich in Rheinland-Pfalz zusammengetan, um den Aktionstag „Suchtberatung – kommunal wertvoll!“ am Mittwoch, 4. November, gemeinsam zu nutzen, um auf die prekäre wirtschaftliche Situation der Suchtberatungsstellen hinzuweisen und um eine Verbesserung der Finanzierung zu werben. Unter anderem hat das Caritas-Zentrum Germersheim die Mitglieder des Landtages Katrin Rehak-Nitsche und Martin Brandl zum Gespräch eingeladen.
Wochenblatt-Redakteurin Heike Schwitalla hat mit den Suchtberatern im Caritas-Zentrum Germersheim gesprochen, um Licht in die Situation zu bringen und aufzuzeigen, warum die Suchtberatung vor Ort eine gesicherte Finanzierung dringend braucht.
???: Stellen Sie uns bitte zunächst die Suchtberatung der Caritas in Germersheim vor. Wie viele Menschen arbeiten dort, was sind ihre Aufgaben, wie viele Suchtkranke betreuen sie?
Joachim Mergen, Leitung des Caritas-Zentrums Germersheim: "In der Suchtberatung des Caritas-Zentrums Germersheim arbeiten drei Fachkräfte mit einem Stundenumfang von zwei Vollzeitstellen verteilt auf die Hauptstelle in Germersheim und die Außenstelle in Wörth. Im organisatorischen Bereich werden diese unterstützt durch die Einrichtungsleitung und die Verwaltungskräfte des Caritas-Zentrums. Die Fachkräfte beraten Suchtkranke und deren Angehörige aus dem Landkreis Germersheim, leisten Präventionsarbeit, insbesondere in Schulen, sind in Netzwerken auf örtlicher und überörtlicher Ebene aktiv und bieten anderen Beratungsdiensten und Institutionen fachliche Beratung bei Suchtfragen an.Im Jahr 2019 wurden 314 Kunden beraten, was auch dem Durchschnitt der letzten zehn Jahre entspricht.
Schwerpunkte in der Symptomatik waren Alkohol 72 Prozent, illegale Drogen 19 Prozent und pathologisches Glücksspiel 5 Prozent. Drei Prozent der Kunden kamen als Angehörige eines Suchtpatienten zu uns. 26 Prozent der Kunden waren arbeitssuchend, 28 Prozent von problematischer Verschuldung betroffen. Unsere Beratungen sind vertraulich und für die Kunden kostenlos."
???: Was ist der Aktionstag „Suchtberatung – kommunal wertvoll!“ - seit wann gibt es ihn?
Joachim Mergen: "Der Aktionstag Suchtberatung findet bundesweit erstmalig am 4. November 2020 mit dem Motto „Kommunal wertvoll!“ unter der Schirmherrschaft der Drogenbeauftragten der Bundesregierung statt. Ziel ist es, Suchtberatungsstellen und Politik in den Kommunen miteinander in einen Dialog zu bringen. Dabei soll vor Ort auf die Dringlichkeit der (Weiter-) Finanzierung und die Zukunftssicherung der Suchtberatungsstellen aufmerksam gemacht werden."
???: Bitte beschreiben Sie die finanzielle Situation der Suchtberatungsstellen ganz allgemein in Deutschland und speziell hier in Germersheim
Joachim Mergen: "Die Finanzierung der Suchtberatungsstellen ist auf Landesebene geregelt. Zu dem Landeszuschuss kommen noch über Zusatzvereinbarungen geregelte Zuschüsse der kommunalen Gebietskörperschaften. In Rheinland-Pfalz beträgt die Landesförderung 25 Prozent der Fachpersonalkosten, die Höhe der Förderung durch die Kommunen entspricht meist ebenfalls dieser Quote. Auch die Förderung der Suchtberatung des Caritas-Zentrums Germersheim beträgt von Land und Kommune jeweils 25 Prozent der Fachpersonalkosten. 50 Prozent der Personalkosten und alle Sachkosten müssen vom Caritasverband für die Diözese Speyer als Träger der Beratungsstelle als Eigenmittel, überwiegend aus Kirchensteuern aufgebracht werden. Im Jahr 2018 waren dies 102.257 Euro. Aufgrund des rückläufigen Kirchsteueraufkommens wird dies in den nächsten Jahren voraussichtlich nicht mehr möglich sein."
???: Drohen auch in Germersheim Entlassungen oder eine Reduzierung des Personals?
Joachim Mergen: "Die Stellenanzahl der Suchtberatung entspricht der zur Förderung nach den Landesrichtlinien erforderlichen Mindestausstattung. Eine Reduzierung hätte den Verlust der Zuschüsse zur Folge und ist somit nicht möglich. Sollten hier Einsparungen vorgenommen werden, müsste das Angebot eingestellt und die Mitarbeiter an anderen Standorten eingesetzt oder mit anderen Aufgaben betraut werden."
???: Was würde mit Suchtkranken passieren, wenn die Hilfe vor Ort wegbricht?
Joachim Mergen: "Die Kommune hätte die Möglichkeit, selbst ein entsprechendes Angebot einzurichten oder einen anderen Träger für diese Aufgabe zu gewinnen. Sollte dies nicht gelingen, ginge für die Betroffenen ein ortsnahes und niedrigschwelliges Hilfsangebot verloren. Der Zugang zu weiteren Hilfeangeboten wie Entwöhnungsbehandlungen oder Nachsorgen würde erschwert. Die fachliche Begleitung von Selbsthilfegruppen würde entfallen. Insgesamt hätte dies den verspäteten Antritt notwendiger Behandlungen, Behandlungsabbrüche und vermehrte Rückfälle zur Folge. Schwere Krankheitsverläufe würden ebenso zunehmen wie Begleit- oder Folgeerkrankungen unter anderem Neuropathien, Krebserkrankungen oder auch psychische Erkrankungen. Die daraus resultierende Zunahme von langen Arbeitsunfähigkeiten, Frühverrentungen und familiären Krisensituationen würden das Gesundheitswesen und soziale Sicherungssysteme schwer belasten."
???: Eine wichtige Aufgabe ist auch die Prävention? Beschreiben Sie kurz, was dabei getan wird - und was langfristig wegfallen könnte
Joachim Mergen: "Zielgruppe unserer Präventionsarbeit sind insbesondere Jugendliche und Kinder. Wir führen deshalb zusammen mit Schulen, Kirchengemeinden, Jugendhilfeträgern und Kommunen Informationsveranstaltungen und Workshops durch. Ziel ist es, für die Risiken des Suchtmittelgebrauchs zu sensibilisieren und Kriterien für einen verantwortungsvollen Umgang beim Konsum von Alkohol oder bei der Nutzung von Medien zu vermitteln. Im vergangenen Jahr führten wir Angebote in Schulklassen, Firmgruppen und Konfirmandengruppen durch, teilweise mit Beteiligung von Ehrenamtlichen aus dem Kreuzbund. Außerdem nahmen wir an der vom Jugendamt organisierten interaktiven Ausstellung Zero zum Thema FASD (Fetal Alcohol Sectrum Disorders) teil."
???: Was wird allgemein für die Suchtberatung gefordert?
Joachim Mergen: "Im Schreiben der LIGA der Freien Wohlfahrtspflege in Rheinland Pfalz vom 25. September an das Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie appelliert die LIGA an die Landesregierung, die Förderung der Regelberatung durch das Land von 25 Prozent auf mindestens 40 Prozent zu erhöhen.Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V. fordert außerdem, die Suchtberatung als kommunale Pflichtleistung zu definieren mit einer personellen Ausstattung von einer Fachkraft pro 10.000 Einwohnern und einer angemessenen technischen Ausstattung."
???: Und was fordern Sie ganz konkret für Germersheim?
Joachim Mergen: "Der Caritasverband für die Diözese Speyer hat sich der Forderung der LIGA angeschlossen. Eine Aufstockung der Landesförderung auf 40 Prozent würde die Situation deutlich entspannen und wäre ein wesentlicher Beitrag zur Sicherung der Suchtberatung auch im Caritas-Zentrum Germersheim. "
Autor:Heike Schwitalla aus Germersheim | |
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