Große Landesausstellung - bis 19. April 2020 im Schloss Karlsruhe
"Kaiser und Sultan – Nachbarn in Europas Mitte 1600–1700"
Karlsruhe. Zu seinem 100-jährigen Gründungsjubiläumwidmet das Badische Landesmuseum der weltbekannten „Karlsruher Türkenbeute“
nach vielen Jahrzehnten wieder eine Sonderausstellung. Die badische
Trophäensammlung aus den sog. Türkenkriegen des 17. Jahrhunderts wird
erstmals auf zwei Stockwerken und damit auf rund 1600 m² im Rahmen einer
Großen Landesausstellung präsentiert. Thematisch ist die Schau „Kaiser und
Sultan – Nachbarn in Europas Mitte 1600–1700“ von größter Aktualität,
eröffnet sie doch neue Perspektiven auf ein altbekanntes Thema: Ostmittel und
Südosteuropa waren im 17. Jahrhundert Schauplatz von zahlreichen
Kriegen und Glaubenskonflikten.
Doch die Protagonisten unterschiedlicherLager begegneten sich in dieser Zeitspanne in mehr als nur in kriegerischer
Absicht. Parallel zu den Kriegen entwickelten sich auf den Gebieten des
damals dreigeteilten Ungarns und der Balkanhalbinsel Transferzonen für
einen regen Austausch. Ziel der Ausstellung ist es, sich von einem eindimensionalen
Gedanken einer ausschließlichen Konfrontation zwischen
den Kulturen zu verabschieden. Habsburger und Osmanen waren Nachbarn
in der Mitte Europas!
Die Ausstellung deckt die engen Beziehungen zwischen den Höfen unter derHabsburgermonarchie und ihre Berührungspunkte mit dem Osmanischen
Reich auf. Auf Grundlage der neuesten wissenschaftlichen Forschung zur
transkulturellen Geschichte setzt sie sich bewusst von thematisch vergleichbaren
Ausstellungen der Vergangenheit ab. Die Große Landesausstellung
stellt die zivilisatorischen Neuerungen in den Mittelpunkt, die im Schatten
von Machtpolitik und kriegerischen Auseinandersetzungen entstanden.
Innovationen in Architektur, Kunst und Mode oder die Einführung neuer
technischer Verfahren künden von einem wechselseitigen Austausch und
der gegenseitigen kulturellen Durchdringung der Kulturen.
320 Exponate
Die Ausstellung beleuchtet mit rund 320 hochkarätigen Exponaten von internationalen Leihgebern Facetten einer vielschichtigen Epoche, dieals „das lange 17. Jahrhundert“ in die Geschichtsbücher einging. Doch das
Badische Landesmuseum schlägt auch einen Bogen von der Vergangenheit
zu den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen unserer globalen Gegenwart.
Die Ausstellung betont den Mehrwert plurikultureller Gesellschaften für
Europa. Mit diesem Ansatz richtet sich die Ausstellung an Besucher jeglicher Herkunft – auch an diejenigen, die ihre Kultur im
Museum bislang nur aus europäischer Sicht repräsentiert sahen. Theresia
Bauer, Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg,
würdigte die Ausstellung als einen wichtigen Beitrag zur Sammlungsgeschichte
des Badischen Landesmuseums mit Gegenwartsbezug: „,Kaiser
und Sultan‘ verfolgt einen innovativen und zugleich hochinteressanten transkulturellen
Ansatz von gesellschaftspolitischer Aktualität. Das Land stellt
hierfür Sondermittel aus dem Etat der Großen Landesausstellungen in Höhe
von rund einer Million Euro zur Verfügung.“
Zur Schau in Karlsruhe werden zum ersten Mal Exponate der „KarlsruherTürkenbeute“ mit einer Vielzahl an Leihgaben aus der Rüstkammer („Türckische
Cammer“) der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden zusammengeführt.
Beide Sammlungen zählen zu den größten osmanischen Museumsbeständen
Deutschlands. Zu den Leihgebern gehören außerdem Museen,
Bibliotheken, Stiftungen und Privatpersonen aus Deutschland, Österreich,
Polen, Ungarn, der Schweiz und Slowenien. Sie stellen für die Große Landesausstellung
berühmte oder zum Teil noch nie ausgestellte Objekte einer
breiten Öffentlichkeit zur Verfügung. Ergänzendes Material kommt aus
England, den Niederlanden und aus der Türkei hinzu.
Ein herausragendes Highlight ist das sogenannte „Blaue Zelt“ aus Krakau,
das einst bei Wien im Jahr 1683 von König Johann III. Sobieski erbeutet
wurde.
Hier können Besucher in einem paradiesischanmutenden osmanischen Ambiente entspannt den Versen des großen islamischen
Mystikers Mevlana (1207–1273) lauschen. Sie erfahren, wie der
Kaffee in Europa heimisch wurde, welch hoher Stellenwert im Osmanischen
Reich der Kalligrafie zukam und wer den Buchdruck in Istanbul einführte.
Eigene Ausstellungsabschnitte berichten, wie sich die sog. Türkenmode in
ganz Europa ausbreitete und welche Rolle anatolischen Gebetsteppichen
in den protestantischen Kirchen Siebenbürgens oder im Totenkult Ungarns
in Zeiten der Gegenreformation zukam.
Mediale Installationen, die das komplexe Zeitgeschehen anschaulichvermitteln, erweitern die Aussagekraft der Leihgaben. Ein Animationsfilm
der Filmakademie Ludwigsburg visualisiert die Geschichte des 17. Jahrhunderts.
Stilistisch lehnt sich der Film, der sich bewusst einer modernen
Jugendsprache bedient, an die Werke des Online-Video-Künstlers und Multiinstrumentalisten
Bill Wurtz an. Als Sprecher konnte der Schauspieler und
Komiker Christian Tramitz gewonnen werden. Ein eigens entwickelter Storyguide
führt – anstelle eines herkömmlichen Audioguides – durch die Ausstellung:
Im Duktus einer orientalischen Erzählung hören die Besucherinnen und
Besucher einen Dialog zwischen der ungarischen Freiheitskämpferin Ilona
Zrínyi (1643–1703) und dem deutschen Schriftsteller Eberhard Werner
Happel (1647–1690), während sie die Exponate näher betrachten.
An drei Medienstationen erhalten Besucher einenÜberblick über die großen Flucht- und Migrationsströme der Zeit. Sie erfahren,
dass Menschen aus politischen, religiösen oder wirtschaftlichen Gründen
spätestens seit dem 15., vor allem aber im 17. Jahrhundert, den Weg über die
sog. Balkanroute nahmen, aber im Vergleich zu heute vorwiegend in umgekehrter
Richtung unterwegs waren: Sie wanderten ins Osmanische Reich
aus.
Die kulturelle Bedeutung von Ostmittel- und Südost-Europa ist heute ausdem Bewusstsein geraten und wird oft von Negativschlagzeilen, der Blockteilung
der Welt und den Jugoslawienkriegen bestimmt. Politisch Rechtskonservative
nehmen die anwachsenden Flüchtlings- und Migrationsströme der
Gegenwart und die „Balkanroute“ ins Visier. Während wichtige Kulturstätten
im Westen Europas, wie Andalusien, Sizilien und Venedig, schon lange alsBrücken zwischen Orient und Okzident gefeiert werden, steht bis heute eine
gleichwertige Anerkennung des betrachteten Raums aus: Der Ort der Begegnung
von Habsburgern und Osmanen liegt in einem Gebiet Europas, zu dem
der Islam damals längst dazugehörte. Neben seiner Rolle als Grenz- und
Transitraum war die Region mit ihrem weitverzweigten Straßennetz für Verkehr
und Handel jedoch vor allem eins: das östliche Tor Europas nach Asien
und der jüngste Umschlagplatz für Informationen, Waren und Ideen. Die Ausstellung
will dazu beitragen, die Bedeutung von Ostmittel- und Südosteuropa
als „Porta Orientalis“ (Tor zum Orient) anzuerkennen.
www.landesmuseum.de
Autor:Jo Wagner |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.