Karlsruher Forscher vergleichen Daten vor und während des Lockdowns im Frühjahr
Kaum Sport – aber mehr Bewegung im Lockdown

Beim Spielen im Freien haben sich Kinder und Jugendliche im Lockdown Bewegung verschafft. | Foto: Martin Köhler für die Motorik-Modul-Studie
  • Beim Spielen im Freien haben sich Kinder und Jugendliche im Lockdown Bewegung verschafft.
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Karlsruhe. Als im Frühjahr 2020 Fußballclubs und Turnvereine wegen der Corona-Pandemie für mehrere Wochen geschlossen waren, haben Kinder und Jugendliche sich Bewegungsmöglichkeiten im Alltag gesucht. Die Motorik-Modul-Studie (MoMo) des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) und der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe (PHKA) stellt im Rahmen einer ergänzenden Studie mit mehr als 1 700 Kindern und Jugendlichen zwischen vier und 17 Jahren fest: Sie haben sich rund 36 Minuten länger pro Tag in ihrem Alltag bewegt, verbrachten aber auch eine Stunde länger am Bildschirm. Über die Ergebnisse berichtet das Team aktuell in der Zeitschrift Scientific Reports. (DOI: 10.1038/s41598-020-78438-4)

„Erstaunlicherweise haben sich die Jungen und Mädchen für den Wegfall der Sportangebote Ersatz gesucht, und zwar auch diejenigen, die vorher nicht sportlich aktiv waren“, sagt Dr. Claudia Niessner. Die Wissenschaftlerin vom Institut für Sport und Sportwissenschaft (IfSS) des KIT leitet gemeinsam mit ihrer Kollegin Dr. Doris Oriwol, KIT und PHKA, das Untersuchungsprojekt, dessen Ergebnisse im Journal Scientific Reports des Verlags Nature Research veröffentlicht wurden. Dass zur Eindämmung der Corona-Pandemie Schulen, Sport- und Spielplätze von Mitte März bis Anfang Mai geschlossen waren, war für das zehnköpfige Forschungsteam am KIT Pech und Chance zugleich: Die Forschenden mussten die aktuellen Felduntersuchungen ihrer Motorik-Modul-Studie (MoMo) zu motorischer Leistungsfähigkeit und Bewegungsverhalten von Kindern und Jugendlichen wegen des Lockdowns unterbrechen, nutzten aber die Möglichkeit von Online-Befragungen. „Wir konnten schnell reagieren und die Lockdown-Phase sehr gut abdecken. Der Vorher-Nachher-Vergleich war nur möglich, weil wir langjährige Daten haben; das ist international einzigartig“, so Niessner. Die Forschenden fanden unter anderem heraus, dass sowohl die allgemeine Bewegungszeit als auch die vor dem Bildschirm verbrachte Zeit zugenommen haben. „Es ist nicht so, dass mehr Medienzeit per se weniger körperliche Aktivität bedeutet. In beiden Bereichen gibt es U-förmige Zusammenhänge mit einem gesunden Lebensstil“, sagt Dr. Steffen Schmidt, der Erstautor der wissenschaftlichen Publikation, die innerhalb des Forschungsprojekts MoMo entstand.

Alltagsbewegung weniger intensiv als Vereinssport
„Die Erhebung zeigt, dass die Alltagsaktivität zugenommen hat, aber sie war eine Momentaufnahme in einem außergewöhnlich warmen Frühjahr, und Quantität ist nicht Qualität“, sagt Professor Alexander Woll, Leiter des IfSS und Verbundleiter der 2003 gestarteten MoMo-Studie. „Spielen im Freien, Fahrradfahren, Garten- oder Hausarbeit haben nicht dieselbe Intensität wie Training und Wettkämpfe im Verein. Außerdem fallen ohne Verein und Schule die sozialen Aspekte weg“, betont der Sportwissenschaftler. „Vor dem Lockdown gab es so viel Vereinssport wie noch nie, rund 60 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland sind in Sportvereinen aktiv. Wie sich der Wegfall von Sport in Schule und Verein langfristig auf die Motorik oder das Übergewicht auswirkt, wissen wir noch nicht“, so Woll. Die Schließung der Vereine bedeutete laut Studie im Schnitt 28,5 Minuten weniger Sport pro Tag. „Digitale Bewegungsangebote haben zwar zugenommen und werden weiterwachsen, es macht aber einen Unterschied, ob ich mich vor dem Bildschirm bewege oder über eine grüne Wiese laufe“, sagt Woll. Neben ihrer Alltagsbewegung verbrachten die Kinder und Jugendlichen knapp 18 Minuten mehr pro Tag mit „unorganisiertem Sport“ wie Kicken, Basketball- oder Federballspielen, nämlich rund 24 statt knapp sieben Minuten vor dem Lockdown. Auch wenn die von der WHO empfohlenen 60 Minuten Bewegung pro Tag nicht erreicht wurden, habe der Lockdown die Bewegung eher gefördert, so Woll. Skeptisch ist der Sportwissenschaftler allerdings im Blick auf das Aktivitätsverhalten in der aktuellen Lockdown-Situation im Winter. Zwar sei der Schulsport noch offen, das sei positiv, aber die Outdoor-Bewegungsmöglichkeiten würden in der kalten, dunklen Jahreszeit wohl deutlich weniger genutzt, erklärt er.

Wohnumfeld spielt wichtige Rolle
„Unsere Untersuchung zeigt, dass es eine große Rolle spielt, in welcher Umgebung die Kinder und Jugendlichen leben“, sagt die Sportwissenschaftlerin Niessner. Am meisten bewegt haben sich diejenigen, die in einem Einfamilienhaus in einer kleinen Gemeinde wohnen, am wenigsten die Kinder und Jugendlichen, die in mehrstöckigen Häusern in der Großstadt zu Hause sind. „Bewegungsflächen verschwinden in der Stadtplanung, hier ist dringend eine Gegenbewegung nötig“, sagt Woll.

Die MoMo-Studie ist ein gemeinsames Verbundprojekt von KIT und PHKA. Die stellvertretende Verbundleiterin Professorin Annette Worth von der PHKA erklärt: „Der Schule kommt in Bezug auf die körperlich-sportliche Aktivität in Zeiten von Corona eine wichtige Aufgabe zu, indem die Lehrerinnen und Lehrer anleiten, begleiten, rückmelden und motivieren. Das ist vor allem wichtig für die Kinder, bei denen zuhause Bewegung, Spiel und Sport eine geringe Rolle spielen“.

Die Langzeitstudie MoMo zur Entwicklung von Motorik und körperlich-sportlicher Aktivität bei Kindern und Jugendlichen ist Teil der bundesweiten Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KIGGS) des Robert Koch-Instituts (RKI) und wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. MoMo soll nach Möglichkeit 2021 fortgeführt werden, um der Frage nachzugehen, welche langfristigen Auswirkungen die quantitativen und qualitativen Veränderungen in der Bewegungswelt – auch durch die Pandemie – auf die Entwicklung der Motorik und Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland haben.

Infos: www.sport.kit.edu/MoMo/

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Autor:

Jo Wagner

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