Online-Adventskalender Türchen 9: Elfriede Hallers Kampf um Teilhabe durch Alphabetisierung

Online-Adventskalender 2023: Was verbirgt sich wohl hinter unserem heutigen Türchen? | Foto: Wochenblatt-Redaktion
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Online-Adventskalender 2023. Der Wochenblatt-Adventskalender stellt jeden Tag einen Helfer vor, der sich für andere einsetzt, damit sie einen festen Platz im Leben finden. Elfriede Haller hilft als VHS-Dozentin in Ludwigshafen Menschen, lesen und schreiben zu lernen, die bislang nicht die Chance dazu hatten. Mit großem Erfolg. Denn als Therapeutin verknüpft sie ihre pädagogische Arbeit mit psychologischen Impulsen.

Haller weiß, auf welche Herausforderungen Analphabeten im Leben tagaus tagein stoßen. Sie kennt die heiklen Situationen, in denen man droht aufzufliegen und die Tricks, die fehlende Lesefertigkeit in Job und Alltag zu verbergen. Sie weiß über die typischen Ursachen für Analphabetismus Bescheid und sie kennt die Geschichten ihrer Schüler. Vernachlässigung durch die Eltern kann eine Rolle spielen. Als Gründe gelten aber auch negative Lernerfahrungen, etwa in Form von Mobbing durch Mitschüler oder von Diskriminierung durch Lehrer. Manche Analphabeten haben motorisch oder kognitiv bedingte Sprachstörungen, die zum verlangsamten Sprechen im Kindesalter führen.

Haller wollte nie Lehrerin werden. Sie wollte Kinder nicht bewerten müssen und entschied sich daher für Psychologie. „In meinen Kursen verknüpfte ich meine pädagogische Neigung mit dem psychologischen Element“, erklärt Haller. Das ermöglicht Teilnehmern, nicht nur Schreiben und Lesen zu lernen. Haller hilft dabei, Effekte im Alltag zu erzielen und weitere Schritte zu gehen, auf dem Weg in ein selbstbestimmtes Leben mit Beruf.

6,2 Millionen Menschen in Deutschland, die im erwerbsfähigen Alter sind und deutsch sprechen, können zwar Buchstaben, Wörter und einzelne Sätze lesen und schreiben, haben aber Mühe, einen längeren zusammenhängenden Text zu verstehen. Mehr als die Hälfte sind Muttersprachler. Die meisten haben es durch den fehlenden Abschluss im Leben nicht leicht. Denn ohne Abschluss lässt der freie Arbeitsmarkt einem oft nicht die Wahl. Man nimmt, was man kriegen kann.

Die Arbeit mit Menschen, die in ihrer Schulzeit nicht ernst genommen wurden oder Vernachlässigung erfahren haben, kann ein Kampf sein. Dass sie vom Fach ist, ist ihr dabei nützlich. Sie weiß, wie sie in Menschen den Glauben an sich selbst und das Vertrauen in andere und öffentliche Unterstützungsangebote wieder weckt. Das fällt vor allem Menschen mit einer schwierigen Herkunft nicht leicht. Für sie ist es nicht selbstverständlich, dass Menschen Interesse zeigen und sich gegenseitig helfen.

Elfriede Haller geht mit dem Verein für Analphabeten Saluma in die Öffentlichkeit. Hier spricht der Vorstand beim Inselsommer Ludwigshafen. | Foto: Elfriede Haller
  • Elfriede Haller geht mit dem Verein für Analphabeten Saluma in die Öffentlichkeit. Hier spricht der Vorstand beim Inselsommer Ludwigshafen.
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Doch Haller blickt nicht auf die Hindernisse, sondern auf die Ergebnisse. Sie unterstützte ihre Kursteilnehmer 2003 bei der Gründung von SALuMa, der ersten Selbsthilfegruppen für Analphabeten in Deutschland. „Betroffene sprechen bei SALuMa über ihre Thematik und fühlen sich gesehen und verstanden. Man hat selten die Gelegenheit, bei der Arbeit mit Menschen solche Erfolge zu sehen“, sagt sie. Ihre Teilnehmer an ihren Kursen und Selbsthilfegruppe sind motiviert und hartnäckig, weil das Leben sie zu Kämpfern gemacht hat. „Ich wollte mehr als nur Unterricht machen“, sagt Haller. Sie besucht mit den Teilnehmern des Vereins SALuMa Kulturevents und Buchmessen, baut mit SALuMa eine Bibliothek für erwachsene Leseanfänger auf und wird gemeinsam mit den Betroffenen-Experten zu Tagungen von Bundes- und Landesministerien eingeladen, wo es darum geht, Hilfen für Analphabeten zu konkretisieren. Betroffene wissen am besten, welche Hilfen die Zielgruppe erreichen.

Ungleichheit beginnt in der Schule

Haller glaubt, dass die Unterschiede bei den Lernfortschritten in der Schule viel kleiner sein könnten. Einer ihrer Kursbesucher erzählte ihr mal, dass er nicht nur der langsamste Erstklässler war, sondern auch auffiel, weil er einem Klassenkameraden eine mit dem Heft überzog, als er ganz nach hinten gesetzt wurde. „Ich wollte einfach nur so lesen und lernen können wie die anderen“, erzählt er ihr. „Daran zeigt sich die ganze Verzweiflung dieser kleinen Kerle. So ein kleines Kind kann mit solch einer Situation kaum angemessen umgehen. Denn eigentlich wünscht sich jeder, einfach nur dazuzugehören“, erklärt sie.

„Ich glaube, dass alle Kinder so sein können wie die anderen und so lernen können, wie die anderen“, sagt Haller. Auch die angeblichen Unruhestifter und Rabauken. Und das erlebt sie Tag für Tag im Kontakt mit ihren Teilnehmern. „Ein Kind, das nicht mitkommt, wünscht sich vom Lehrer nichts mehr als etwas Unterstützung und Zuwendung – besonders, wenn er von seiner Herkunft weiß. Bekommt es die Hilfe, wird es schon aus Wertschätzung und Dankbarkeit mitmachen. Dafür fehlt den Lehrern schlichtweg häufig die Zeit“, sagt Haller. „Wenn ein Kind in der dritten Klasse noch nicht sinnerfassend lesen kann, ist es fast ausweglos, die Lücken noch aufzuholen. Die Lehrer, mit denen ich im Gespräch bin, berichten, dass sie sich schon um all die Kinder kümmern müssen, die nach den Eltern unbedingt die Gymnasialreife brauchen. Diese Eltern rufen immer wieder an oder kommen vorbei. Dann fällt eher ein Kind durch, dessen Eltern sich nicht kümmern oder kümmern können. Damit ist Bildung abhängig vom Elternhaus.“

Ginge es nach ihr, sollten Stress und Druck in der Grundschule weniger Raum haben. Oft erzeugt schon der nahende Übergang auf die weiterführenden Schulen Druck, denn damit zählen die Noten. „Die Kinder quälen sich durch und entwickeln damit nicht unbedingt eine positive Arbeitshaltung und Selbstbewusstsein, weil sie an der Basis nicht gleich sind.“ Wer erstmal auf der Sonderschule ist, bleibt in der Regel auch dann dort, wenn durch gute Förderung der Anschluss an die Regelschule möglich wäre. „Dort erhält man nicht unbedingt die Förderung, die man braucht. Es fehlt in der Regel häufig noch an individualisierten pädagogischen Konzepten“, sagt Haller.

Maßnahmen für Alphabetisierung kamen erst in den 80ern allmählich auf und waren Ländersache. Mitte der 90er gab es erste Leitlinien für Alphabetisierung in Rheinland-Pfalz. Erst 2011 mit der Leo-Level One Studie wurde die Problematik bundesweit erkannt und andere Bundesländer zogen nach. Bund und Länder beschlossen 2016 die sogenannte Dekade für Alphabetisierung, so sind alle Länder gleichermaßen in der Pflicht. Damit stehen Bundesmittel bereit, die Unternehmen und Volkshochschule abrufen können, um Menschen in Grundbildung- und Schreibkursen zu alphabetisieren. Über die Grundbildung will man Menschen ohne Fertigkeiten zum Lesen und Schreiben motivieren.

Einerseits sind mehr als die Hälfte aller Analphabeten im Bundesgebiet in Arbeit. Andererseits will man das Potenzial ausschöpfen, das in diesen Menschen steckt, auch auf dem Arbeitsmarkt. „Analphabeten sind alles andere als ungebildet, die Schwäche wirkt sich nicht auf die Intelligenzentwicklung aus“, betont Haller. Sie haben oft besondere autodidaktische, praktisch organisatorische und soziale Fähigkeiten, weil sie sich vieles selbst beibringen mussten.

Aus der von Haller mit gegründeten Selbsthilfegruppe SALuMa formierte sich ein Interessenverein für Analphabeten, der heute auf gemeinsamen Tagungen mit den Bildungsministerien Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg auch politischen Einfluss nimmt. Zu ihren größten Erfolgen zählt Haller, dass ihre Teilnehmer sich aus der Opferrolle befreien und ihre Sache selbst in die Hand nehmen. jg

Adventkalender Türchen 9: Verlosung von Karten für "Dinner for One"

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Online-Adventskalender Türchen 9: Theaterkarten fürs Schatzkistl

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Autor:

Julia Glöckner aus Ludwigshafen

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