Vom ganz persönlichen Glück: Karla Spagerer, eine Zeitzeugin berichtet

Als Zeitzeugin berichtet Karla Spargerer aus der Zeit ihrer Kindheit und Jugend | Foto: Jessica Bader
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Mannheim. Karla Spagerer ist eine beeindruckende Frau. Als Zeitzeugin berichtet sie regelmäßig bei Veranstaltungen und in Schulen aus der Zeit von 1933 bis 1945, aber auch vom Mannheim der Nachkriegszeit. Aufgewachsen in einer politisch verfolgten Familie, bedeutet es der 95-Jährigen alles, dass Kinder angstfrei aufwachsen können.

Das ganz persönliche Glück

„Mein ganz persönliches Glück sind meine Urenkel. Ich habe zwei – der Bub ist 13, das Mädchen ist 11. Als der Bub seinen 13. Geburtstag mit seinen Freunden gefeiert hat, konnte ich sehen, wie schön und sorglos er gespielt hat. Da habe ich meine ersten zehn Kindheitsjahre Revue passieren lassen und gemerkt, was ich alles in den ersten zehn Jahren erlebt habe. Ich bin sehr dankbar, dass das Kindern heute erspart geblieben ist. Die aktuelle politische Lage macht mir in diesem Hinblick auch Angst. Deshalb hoffe ich, dass ich das, was ich mache, noch lange machen kann, aber spüre auch mein Alter. 95 das war wie ein Hammerschlag. Doch dann habe ich mir überlegt, dass aktuell ja auch viele Leute 100 werden und mir gedacht: Warum nicht, ich hab Zeit!“

Wenn Karla Spagerer spricht, nimmt sie die Zuhörenden sofort mit ihrer herzlichen Art und ihrem unvergleichlichen Humor ein. Seit 2018 geht sie regelmäßig an Schulen, um aus der Zeit ihrer Kindheit und Jugend zu berichten. Es ist ihr wichtig, den jungen Schülern zu erzählen, wie es ist, in einer Diktatur zu leben. Eindringlich berichtet sie von Erinnerungen, die sie ihr Leben lang begleitet haben.

Frühste Erinnerungen - eine verfolgte Familie

„Meine Erinnerung beginnt in Saarbrücken, wo wir uns 1934 von meinem Onkel, Erwin Ries, und seiner Frau Rike verabschiedeten. Sie emigrierten, weil er Funktionär in der KPD war und beide wussten, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis sie abgeholt werden. Es tat mir unglaublich weh, zu sehen, wie sich meine Großmutter von ihrem Sohn verabschiedete – wir haben meinen Onkel nie mehr gesehen.“

Die Großmutter mütterlicherseits und ihre Brüder waren Kommunisten. Nach der Machtergreifung Hitlers, als Parteien und Gewerkschaften zerschlagen wurden und auch die ersten Verhaftungswellen übers Land gingen, bildeten sich Widerstandsgruppen. Im Mannheimer Norden gab es eine sehr starke kommunistische Gruppe um Georg Lechleitner. Er war während der Weimarer Republik erst Stadtrat und dann Landtagsabgeordneter. Als Kind ging Karla Spagerer bei Frau Lechleitner ein und aus. Daran erinnert sie sich heute noch gut. Auch daran, dass ihre geliebte Großmuter 1936 von der Gestapo verhaftet wurde. Sie kam ins Untersuchungsgefängnis im Mannheimer Schloss. Bei der Hauptversammlung konnte man ihr nur nachweisen, dass sie Geld und Lebensmittel gesammelt hatte für Familien, deren Männer und Väter inhaftiert waren. Das Urteil lautete 18 Monate Zuchthaus. „18 Monate sind eine lange Zeit für ein Kind, das seine Großmutter sehr liebt.“

Karla Spargerer setzt sich mit ihrer Erinnerungsarbeit für die Demokratie und die Menschlichkeit ein | Foto: Jessica Bader
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Prägende Erinnerungen und eindringliche Momente

„Während dieser Nazizeit gab es einige Ereignisse, die mich geprägt haben. Dazu zählt der 9. November 1938 (Reichspogromnacht). Mein Vater arbeitete in einer jüdischen Firma – ein kleiner Familienbetrieb in F3. Meine Eltern waren mit der Familie – zwei Schwestern – befreundet. Ich weiß, dass mein Vater ihnen geraten hat, Deutschland zu verlassen. Doch beide sagten: ‚Uns wird nichts passieren. Wir sind doch Mannheimer Bürgerinnen.‘ Und dann kam die Kristallnacht, wie die Nazis sie nannten. Meine Eltern fuhren früh morgens mit der Straßenbahn in die Stadt – ich war dabei, damals neun Jahre alt. Am Marktplatz stiegen wir aus: Da waren überall SA-Männer in ihren braunen Uniformen. Wir sahen, wie sie Möbel und Kinderspielsachen, alles auf die Straße warfen. Und wir sahen auch, wie sie Frauen und Männer abführten.“ Bilder, die sich Karla Spagerer ins Gedächtnis gebrannt haben. „Wir gingen sehr schnell nach F3. Von weitem sah man schon, dass das Hoftor offen stand. Das Büro war verwüstet, Schubladen rausgerissen, der Panzerschrank stand offen. Mein Vater ging nochmal durch das ganze Haus – es war niemand mehr da. Gegenüber in F2 stand die Synagoge und ich hörte meinen Vater sagen: ‚Die haben drinnen gesprengt.‘ Vor der Tür stand ein SA-Mann, der hatte neben sich ein Schild und darauf stand in Sütterlin ‚Besichtigung 10 Pfennig‘. Bei diesem Anblick habe ich scheinbar sehr laut gerufen: ‚Erst machen die alles kaputt und dann verlangen sie noch Geld dafür.‘ Ich weiß nur noch, dass meine Mutter mir ganz fest den Mund zugehalten hat und dann sind wir nach Hause.“

Diese eindringlichen Bilder und Momentaufnahmen sind es, die ein Treffen mit Karla Spagerer so besonders machen. Mit ihrer persönlichen Geschichte macht sie die Schrecken der NS-Diktatur greifbar und gewährt tiefe Einblicke in die Lebenswirklichkeit der Menschen zu dieser Zeit.

„Wenn man während einer Diktatur in einer verfolgen Familie aufwächst, dann ist man früher reif, als ein Kind heutzutage. Und weil ich nicht will, dass die nächsten Generationen nochmal so etwas erleben müssen, werde ich weiterhin an Schulen gehen. So lange wie ich kann, werde ich immer wieder sprechen – gegen das Vergessen.“ Karla Spagerer sieht es nicht nur als ihre Aufgabe, die Erinnerung an diese Zeit wachzuhalten, sondern auch zu vermitteln, wie wichtig und essenziell der Einsatz für Demokratie und Menschlichkeit ist.

„In letzter Zeit denke ich oft über mein Leben nach. Am Anfang meines Lebens, als ich Kind war, hatte ich viel Angst: Um meine Großmutter, um meinen Vater und im Krieg. Kinder sollten keine Angst haben. Nun lebe ich fast 80 Jahre in einer Demokratie. Ich weiß, auch in einer Demokratie gibt es Probleme, aber daran kann man arbeiten – ohne Angst.“

Eine Nachkriegszeit mit Glücksmomenten

In ihrer humorvollen Art berichtet Karla Spagerer auch von der Nachkriegszeit. Davon, wie ihre Puppen eingetauscht wurden, um an Essen zu kommen und davon, dass es keine Schuhe mehr gab. „Also haben die Schreiner Holzsohlen ausgesägt und dann wurden Stofffetzen draufgenagelt. Ich hatte Blasen und wenn es geregnet hat, musste ich daheim bleiben oder ich bekam nasse Füße.“ Die Zeit nach dem Krieg hat Spagerer ambivalent erlebt: „Auf der einen Seite waren wir furchtbar arm. Wir hatten nichts zu Essen und nichts zum Brennen gehabt. Auf der anderen Seite waren wir glücklich, wir waren euphorisch – in Aufbruchstimmung.“ Für sie ganz persönlich war es „eine der schönsten Zeiten im Leben“, denn damals lernte sie ihren späteren Mann Walter kennen. „Ich habe die Liebe auf den ersten Blick erlebt.“

Durch ihre Schilderungen werden Erinnerungen wieder lebendig – Bilder von jungen Menschen, die miteinander tanzten und auf eine bessere Zukunft hofften, von einer Hochzeit in der Nachkriegszeit, zu der der Vater von Karla Spagerer „pünktlich“ aus der russischen Kriegsgefangenschaft nach Hause kam. Fast meint man, das Grammophon zu hören und den vom Krieg gezeichneten Menschen zu begegnen. Durch Karla Spagerers Erzählungen bleiben Erinnerungen lebendig und die Menschen und ihre Schicksale unvergessen.

„Ich habe nicht nur schlimme Sachen erlebt. Ich hatte eine sehr behütete Kindheit. Später habe ich viele Schicksalsschläge hinnehmen müssen, aber man muss vorwärts blicken. Ich sage den jungen Menschen an der Schule immer: Passt auf und hört genau hin! Das wird immer wichtiger.“ [sic]

Als Zeitzeugin berichtet Karla Spargerer aus der Zeit ihrer Kindheit und Jugend | Foto: Jessica Bader
Karla Spargerer setzt sich mit ihrer Erinnerungsarbeit für die Demokratie und die Menschlichkeit ein | Foto: Jessica Bader
Autor:

Jessica Bader aus Mannheim

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