Interview der Woche
Melanie Scherff vom Frauenhaus Neustadt

Melanie Scherff | Foto: Foto: ps

Neustadt. Dass es in Neustadt ein Frauenhaus nebst Beratungsstelle gibt, ist vielen nicht bekannt. Und selbst von Gewalt betroffene Frauen, die es wissen, trauen sich oftmals nicht, die Einrichtung in Anspruch zu nehmen. Wir sprachen mit der Leiterin des Frauenhauses Melanie Scherff über eine sich derzeit offensichtlich verschärfende Problematik und befragten Sie über die möglichen Ursachen und Hintergründe.

??? Glauben Sie, dass die Problematik der Gewalt an Frauen durch Corona und der damit verbundenen häuslichen Enge in Folge von Kurzarbeit, Quarantäne, Home-Office etc. verstärkt wird?
Melanie Scherff: Wir schätzen das ähnlich ein, auch wenn es dazu wenig Untersuchungen gibt. Die Situation in den heimischen vier Wänden ist derzeit sehr angespannt, der Stress steigt, die Frustrationstoleranz ist kleiner. Und das ist während des zweiten Lockdowns nicht anders. Erwartungen wurden enttäuscht, das Testen und Impfen klappt nicht reibungslos, Mutationen sind hinzugekommen. Das alles macht was bei den Leuten. Und wenn die Gewalt bereits vorher eine Rolle spielte, verstärkt sich das Problem jetzt zwangsläufig. Denn Stressfaktoren unterstützen Gewalt. Eine weitere negative Begleiterscheinung der Pandemie: Vorher vorhandene Hilfsstrukturen fallen komplett weg, die Jugend haben keine Anlaufstellen. Und Frauen können, wenn die Männer im Home-Office sind, nicht unbeobachtet im Internet nach Hilfe recherchieren. Wir beobachten verstärkt Hochrisikofälle.

??? Was darf man darunter verstehen?
Melanie Scherff: Wenn der Gewaltfall mit einem Polizeieinsatz einhergeht, bekommen wir von der Polizei ein Fax zugeschickt. Mit Hilfe eines sogenannten Danger Assessment-Bogens, der bestimmte Faktoren abfragt, können wir die Gefahr einer Tötung abschätzen. Das sind dann die besagten Hochrisikofälle.

??? Und wenn die Polizei keinen Einsatz hat?
Melanie Scherff: Dann bekommen wir die Gewalttat oftmals nicht gemeldet, da die Opfer es häufig nicht schaffen, die Hemmschwelle zu überwinden und zum Hörer zu greifen. In solchen Fällen ist es wichtig, dass die Nachbarn, Freunde oder die Familie hellhörig sind und sich mehr trauen, Unterstützung zu holen. Zum Stichwort „Hemmschwelle“: Wir beraten vertraulich und anonym, bieten eine niedrige Hürde an und raten auch mal zu einer Anzeige ab, wenn das keinen Sinn macht. Wir wollen ja keine Überwachungskultur, wollen nicht, dass jemand gleich denunziert wird. Unser großer Vorteil: Wir haben keinen Ermittlungsdruck.

??? Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich sehr hoch?
Melanie Scherff: Ja, die Dunkelziffer schätzen wir aufgrund der Scham als sehr hoch ein. Wenn die Polizei am Tatort eintrifft, behaupten die Frauen oftmals, alles sei gut. Dann hat die Polizei keine Handhabe mehr.

??? Viele Menschen haben falsche Vorstellungen von der Gewalt an Frauen. Welches sind die häufigsten Vorurteile?
Melanie Scherff: Zum Beispiel, dass Gewalt an Frauen nur oder hauptsächlich in bildungsfernen Schichten vorkommt. Das stimmt nicht. Gewalt an Frauen ist völlig unabhängig von kulturellen und sozialen Hintergründen. Außerdem steht oft nur die körperliche Gewalt im Fokus. Dabei gibt es viele Facetten, wie zum Beispiel psychische oder finanzielle Gewalt. Viele Frauen werden von ihren Männern komplett kontrolliert, ihr Selbstbewusstsein wird nach und nach systematisch zerstört.

??? Was hält eine gut verdienende, beruflich erfolgreiche und wirtschaftlich unabhängige Akademikerin davon ab, ihren gewalttätigen Partner zu verlassen?
Melanie Scherff: Es sind die Machtverhältnisse, die im Laufe der Jahre entstehen. Dabei handelt es sich um schleichende Prozesse, die Frauen in Abhängigkeitsverhältnisse bringen. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Frauen nicht auf ihre Bauchgefühle hören, sondern eine Teilschuld bei sich selbst suchen. Der wichtigste Faktor aber ist die Scham. Sich zum Beispiel gegenüber anderen rechtfertigen zu müssen, warum man überhaupt mit diesem Mann zusammengekommen ist. Besonders schwierig wird es, wenn Kinder mit im Spiel sind und man Gefahr läuft, gesagt zu bekommen: „Wie kannst Du das nur den Kindern antun?“. Die Angst vor den gesellschaftlichen Erwartungen spielt überhaupt eine große Rolle, denn Gewalt passiert ausschließlich in den eigenen vier Wänden. Nach außen hin sind die Männer völlig normal, nett und unauffällig und die Frauen befürchten daher, dass ihnen niemand glaubt.

??? Gibt es Männer, die merken, dass bei ihnen was schiefläuft und die ihr Verhalten gerne ändern würden?
Melanie Scherff: Wir haben noch immer patriarchalische Strukturen, verbunden mit bestimmten Vorstellungen von Männlichkeit. Es wird wenig akzeptiert, wenn Männer Gefühle und Schwächen zeigen. Der Mann wird in bestimmte Rollenbilder hineingepresst. Elternzeit für Männer ist zum Beispiel gesellschaftlich nicht anerkannt, Karriere machen dagegen schon. Aber es gibt mittlerweile Präventionsangebote für Männer, die etwas ändern wollen.

??? Da gibt es doch die sogenannte Istanbulkonvention?
Melanie Scherff: Das ist ein Übereinkommen des Europarats, das 2014 aufgesetzt wurde. Da geht es um die Verhütung von häuslicher Gewalt und die Fragestellung, welche Mittel benötigt werden, um die Gewaltspirale aufzubrechen. Das ist ein gutes Papier, in dem viel drinsteht, aber dessen Umsetzung einen riesigen finanziellen Aufwand voraussetzt. Unser großes Problem ist es, die Kosten zu stemmen, die dazu erforderlich sind und die mit der Frage beginnen, wer sie übernimmt, ob Kommunen, Bund oder Länder. Seit dem letzten Jahr gibt es eine Person, die darauf angesetzt wurde, die Konvention für Rheinland-Pfalz umzusetzen.

??? Wie viele Frauen leben im Frauenhaus Neustadt und wie groß ist die Verweildauer?
Melanie Scherff: Wir können sieben Frauen mit ihren Kindern aufnehmen. Die Verweildauer ist sehr unterschiedlich. Viele Frauen haben es zwar geschafft, sich zu trennen, aber finden keine neue Wohnung. Manche bleiben nur drei Nächte, manche über ein Jahr. Grundsätzlich geht die Entwicklung eher dahin, dass Frauen hier einziehen und von uns aus direkt nach einer eigenen Wohnung Ausschau halten, also nicht mehr in ihr altes Heim zurückkehren. Und tatsächlich nehmen Frauen aus höheren Schichten unser Angebot weniger in Anspruch, als jene aus ärmeren Haushalten. Frauen mit Vermögen mieten sich eine Ferienwohnungen oder finden Unterschlupf bei einer Freundin. Anders verhält es sich bei unserer Beratungsstelle, die von allen Schichten aufgesucht wird.

??? Fühlen Sie sich manchmal in ihrer Arbeit nicht genügend von Behörden und Institutionen wie Gerichte, Staatsanwaltschaften und Polizei unterstützt?
Melanie Scherff: Sagen wir es einmal so: Die Netzwerkarbeit ist ausbaufähig. Jede Institution hat naturgemäß ihren eigenen Auftrag und manchmal kollidieren die Interessen. Wir wollen die Zusammenarbeit verbessern, aber das ist natürlich im Alltag schwierig. Bei der Polizei gehört das Thema „Gewalt an Frauen“ zum Ausbildungsinhalt, bei Richter und Staatsanwälten dagegen nicht. Unserer Meinung nach muss das in die Ausbildung implementiert werden. pac

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Autor:

Markus Pacher aus Neustadt/Weinstraße

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