Im Gespräch mit dem Publizisten Helmut Ortner
"Streit ist systemrelevant."

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Helmut Ortner plädiert in seinem neuen Buch für zivilisierten Streit –
nicht nur in diesen Corona-Zeiten. Denn eine offene Gesellschaft
brauche Gegenrede und Widerstreit. Konformismus sei Gift für die Demokratie.

Am Freitag, den 5. November 2021 ab 18.00 Uhr
liest Helmut Ortner in der
Stiftskirche in Neustadt/Weinstraße
aus seinem im Mai 2021 erschienen
Buch "Widerstreit. Über Macht, Wahn und Widerstand"

Ihr Buch „Widerstreit" liest sich wie ein Plädoyer für eine
vielstimmige Streitkultur. Wird derzeit nicht schon genug gestritten
in unserem Land?

Helmut Ortner:
Keineswegs. Streit ist der Sauerstoff für unsere Demokratie. Man
könnte auch sagen: die Bereitschaft zum Streiten ist
"systemrelevant". Dies gilt besonders in Zeiten, in denen
die Pandemie das ganze Land im Griff hat. Politische Entscheidungen
müssen von der Mehrheit unterstützt werden, aber Minderheiten
müssen gehört werden. Sie müssen sich in den Entscheidungen
wiederfinden können. Es muss diskutiert und gestritten werden. Das
ist die Grunderkenntnis von Demokratie.

Wann aber wird aus einem konstruktiven Streit eine aggressive Abgrenzung,
die nicht zusammenführt, sondern spaltet?

Helmut Ortner:
Die Corona-Pandemie wirkt wie ein Brennglas für gesellschaftliche
Missstände und Defizite. Und da gibt es derzeit nun wirklich viel zu
diskutieren. Vieles von dem, was wir jetzt erleben, was in unserem
Land nicht funktioniert, hat auch mit der Frage zu tun: Wer hat
dieses Land eigentlich die letzten 16 Jahre regiert? Politik- und
Verwaltungsversagen sind vielfältig spürbar, noch nie haben so
viele Menschen den politischen Entscheidungs- und Funktionsträgern
ihre Loyalität aufgekündigt...

Beispielsweise die Aktion bekannter Schauspieler, die – in nicht
Unumstrittenen Videos – für Aufregung gesorgt haben...

Helmut Ortner:
Eine Aufregung, die ich nicht teilen mag. Man muss ja nicht alle Beiträge
für gelungen halten. Redliche Absichten bringen nicht
automatisch sinnvolle Inhalte hervor. Einige Beiträge sind
missverständlich, ja, auch missraten. Wenn Politiker aber von
Zynismus reden, dann sind das gewohnte Reflexe derer, die wirklich in
der Pandemie versagt haben. Wenn eines zynisch ist, dann das
verlogene Applaudieren für Pflegekräfte und Klinikpersonal. Die
Politik hat doch in den letzten Jahren an deren Gehältern rigoros
gespart. Darüber sollte man sich aufregen. Aber nicht zu übersehen
ist: unsere Demokratie steht auf dem Prüfstand, viele Bürger
misstrauen dem Staat und seinen Institutionen. Und klar ist:
Politik muss mehr sein als Abwehrkampf gegen das Virus. Es
braucht Strategien über den Tag hinaus, eine Antwort auf die Frage:
Wie wollen wir als offene Gesellschaft mit der Pandemie leben?
Darüber muss und soll gestritten werden.

Streit um die beste Lösung, ja... Aber nicht allein in digitalen Foren wird
gehetzt und polarisiert. Aggression und Hass statt Argument und
Austausch. Einige wittern sogar eine Meinungsdiktatur...

Helmut Ortner:
Nein, es gibt keinen Plan zur Abschaffung der Demokratie durch eine
"Merkel-Diktatur" oder andere böse Kräfte. In Krisenzeiten grassiert
nicht nur eine Realitätsverleugnung, sondern es kursieren wahnhafte
Verschwörungstheorien – nicht nur in digitalen Echo-Räumen.
Extremismus kann sich hier ungestört entfalten. Kein guter Zustand.
Demokratie aber braucht Vertrauen, das ist die tragende Währung.
Mangelt es daran, schafft das ein Klima des Misstrauens, der Angst,
der Aggression. Mit anderen Worten: es braucht den offenen,
zivilisierten Streit. Ich sehe ihn nirgendwo hierzulande eingeschränkt,
man muss sich nur daran beteiligen wollen. Protest und Streit ist
hierzulande nicht gefährlich. Es eignet sich nicht als heroische Geste.
Und wer sich das Etikett eines "Querdenkers" anheftet, der muss nun
wirklich keinen Mut aufbringen. Wer von Meinungsdiktatur schwafelt,
weiß nicht, was Diktatur ist – ein Blick nach Belarus, in die Türkei, nach
Russland klärt ihn vielleicht auf.

In Ihrem Buch geht es nicht allein um die aktuelle Corona-Debatte. Es
ist auch eine Bestandaufnahme historischer Beispiele von
unterlassenem Widerstand und Widerstreit – gegen politischen
Fanatismus und religiösen Wahn, gegen Geschichtsvergessenheit und
Populismus...

Helmut Ortner:
Ja, die Corona-Debatte überdeckt vieles, was aktuell
"streit-würdig" wäre: die halbherzige Klimapolitik
unserer Regierung, der beschämende Umgang mit der
Flüchtlings-Wirklichkeit bis hinein in die Niederungen
deutscher Realpolitik, vom Maut-Desaster eines Herrn Scheuer bis hin
zum Wirecard-Versagen eines Kanzler-Kandidaten Scholz. Kurzum: an
Anlässen für Widerstreit besteht ja kein Mangel. In meinem
Buch beschreibe ich anhand historischer und aktueller Beispiele,
wohin jede Form von Konformismus und Gleichförmigkeit führen
können. Sie sind Gift für die Demokratie.

Sie plädieren nicht nur für die unbedingte Verteidigung freier
Meinungsäußerung, sondern auch für die Pflicht des Widerstreits,
gewissermaßen als Grundelement der Demokratie...

Helmut Ortner:
Unsere Geschichte kennt totalitäre Epochen. Hier gab es keine eigene,
widerspenstige Meinung – sondern nur Denken und Reden im
Gleichschritt. Das Besondere an der Demokratie ist, dass sie nicht
das "totale Wir" anstrebt. Zweifel, Aufbegehren, Widerstand
sind keine Untugenden in einer freien Gesellschaft, sondern deren
Grundlage. Demokratie bedeutet immer Pluralität. Demokratie ist
Differenz und Dissidenz. Hannah Arendts Diktum, dass es "kein
Recht zu gehorchen" gibt, findet sich auf den ersten Seiten
meines Buches. Es hat bis heute Gültigkeit.

(Das Interview führte Natalie van Haart)

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Autor:

Sabine Rank-Amendt aus Neustadt/Weinstraße

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