Menschen mit Beeinträchtigung bietet die Lebenshilfe Südliche Weinstraße vielfältige Möglichkeiten, einer sinnstiftenden Tätigkeit nachzugehen und sich weiterzuentwickeln.
Selbstbewusst und selbstbestimmt
Wie davon alle Beteiligten profitieren, zeigt das Erfolgsbeispiel max4car: Aus einem einstigen Montageauftrag für Scheibenreiniger hat sich ein führender Hersteller für Autozubehör auf dem europäischen Markt entwickelt.
Pollen, Staub, Insekten – nicht nur die Hitze macht im Sommer Autofahrern zu schaffen. Beim Tankstellenbesuch greifen Tag für Tag Millionen von Menschen daher auch zum Scheibenreiniger, der in einem Eimer mit Wasser meist gleich neben der Zapfsäule steht. Was kaum jemand weiß: Bundesweit und in großen Teilen Europas ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass Menschen mit Behinderung den nützlichen Alltagshelfer gefertigt haben – in der Südpfalzwerkstatt in Offenbach an der Queich.
Einer von ihnen ist Michael Kögel. Seit genau 20 Jahren arbeitet der Mann mit Down-Syndrom hier. Gewissenhaft positioniert der 41-Jährige den sogenannten Hauptkörper und den Griff aus Kunststoff sowie ein Aluminiumrohr in der Vorrichtung. Ein prüfender Blick. Ein Knopfdruck. Schon sind die drei Teile pneumatisch verpresst. Möglich macht das eine Erfindung der hauseigenen Betriebswerkstatt. Vier solcher Maschinen sind während der Scheibenreiniger-Vormontage im Werk Offenbach 2 im Einsatz. Verletzen kann sich niemand. Dafür sorgt eine Lichtschranke. Dank dieser technischen Unterstützung montieren allein die 16 Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung in dieser Arbeitsgruppe pro Jahr etwa 250.000 bis 300.000 Scheibenreiniger in unterschiedlichen Ausführungen. Hinzu kommen die in den Werken Offenbach 1 und Wörth verarbeiteten Exemplare. Aktuell machen die Scheibenreiniger insgesamt rund 30 Prozent des Umsatzes der Eigenmarke max4car aus.
Mutiger Entschluss sichert Arbeitsplätze
„Mit den Scheibenreinigern hat alles angefangen“, erinnert sich Heribert Boltz, der den max4car-Vertriebsbereich leitet. Seit Mitte der 1980er Jahr montierten und verpackten 50 Menschen mit Behinderung in der Südpfalzwerkstatt im Auftrag eines inhabergeführten Produktionsbetriebs für Automobilzubehör. 2002 dann der Schock: Das Unternehmen aus dem Raum Heilbronn musste Insolvenz anmelden. „Wir wollten auf keinen Fall die wertvollen Arbeitsplätze verlieren, die unseren Mitarbeitern so vielfältige Einsatzmöglichkeiten boten“, betont Geschäftsführerin Marina Hoffmann. Das Wagnis, als bisheriger Auftragnehmer plötzlich in die Unternehmerrolle zu schlüpfen, habe ihrem Vorgänger Helmut Heller allerdings so manche schlaflose Nacht bereitet. „Immerhin galt es, den insolventen Betrieb samt Maschinenpark, Kundenstamm und unerfüllten Lieferverträgen kurzerhand aufzukaufen“, so Hoffmann. Noch dazu musste gemeinsam mit einer Werbeagentur eine Marke samt Corporate Identity geschaffen und am Markt etabliert werden.
Logistik als Herausforderung
Die Rechnung ging auf: Der Kundenstamm von max4car ist von ehemals sieben auf ein Vielfaches im In- und Ausland gewachsen, der Jahresumsatz der erfolgreichen Eigenmarke liegt bei drei Millionen Euro. Gegen den Preisdruck aus Südostasien behauptet sich max4car mit Qualitätssiegeln, der ausschließlichen Verwendung von Kunststoffen, die Umwelt- und Gesundheitsvorschriften entsprechen, regionaler Nähe, Termintreue und einer kompletten Auftragsabwicklung von der Beratung bis zum Versand. Mit rund 300 Produkten zählen die Südpfälzer längst zu den führenden Herstellern für Autozubehör auf dem europäischen Markt. Das Spektrum reicht von Scheibenreinigern in unterschiedlichen Längen und Ausführungen, Eiskratzern sowie Schneebesen und -schaufeln über Fettpressen, Ölkannen und Einfülltrichter bis hin zu Parkscheiben. Die Zahl der Mitarbeiter mit Beeinträchtigung, die in diesem Bereich tätig sind, hat sich seit 2002 verdoppelt.
Diese Entwicklung wirkt sich auch auf die Logistik aus: „In unserem Logistikzentrum sowie im nur wenige hundert Meter entfernten Werk Offenbach 3 nehmen die Fertig- und Rohware insgesamt rund 3.000 Quadratmeter Lagerfläche in Anspruch“, rechnet Produktionsleiter Jürgen Kerner vor, der auch das Logistikzentrum verantwortet. „Damit macht max4car den Löwenanteil unserer Kapazitäten aus.“ Große Lagerflächen seien in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung unabdingbar: „Wir müssen Rücksicht auf die individuellen Gegebenheiten unserer Mitarbeiter mit Beeinträchtigung nehmen.“
Über die Jahre hinweg haben vier angestellte Maschinenbauer zusammen mit den Gruppenleitern an der Technisierung und Optimierung der Betriebsabläufe gefeilt. „Ein kontinuierlicher Prozess“, unterstreicht Kerner. „Immer wieder werden sämtliche Arbeitsschritte in der Produktionskette analysiert, mögliche Fehler- und Gefahrenquellen behoben.“ Das erhöhe nicht nur die Produktivität, sondern vor allem die Zufriedenheit der Menschen mit Beeinträchtigung.
Abwechslung ermöglicht neue Erfahrungen
„Ich mag die Arbeit hier sehr“, sagt Ananthan Jegatheesan. An diesem Nachmittag etikettiert der 32-Jährige Trichter, während die Julisonne zwischen den Pflanzen in der großzügigen Außenanlage hindurch ins deckenhohe Fenster scheint. Sein Lächeln auf den Lippen verliert er nie. „Morgen verpresst Ananthan schon wieder Scheibenreiniger“, weiß Gruppenleiter Bernd Hiegle. „Die Endmontage ist gewissermaßen die Königsdisziplin und daher begehrt.“ Regelmäßig wechseln sich die Gruppenmitglieder bei den Aufgaben ab. So sammeln sie neue Erfahrungen, können ihre unterschiedlichen Stärken einbringen und weiterentwickeln.
Heute hat sich Michael Kögel die besonders beliebte Tätigkeit gesichert. Dafür ist die umso anspruchsvoller. Schließlich ist neben der richtigen Reihenfolge der Arbeitsschritte ein hohes Maß an Präzision gefragt. Mit geübter Hand greift Kögel in die Kunststoffbox mit den vormontierten Teilen. Eines davon legt er behutsam in die entsprechende Vorrichtung ein. Neun solcher Maschinen für die Endmontage stehen im Raum – je nachdem, welches Modell gerade gebraucht wird. Der 41-Jährige bringt den Schwamm in Position, dann die Gummilippe davor. „Vielen Dank“, ruft Kögel seinem Kollegen Markus Lallmann zu, als er zum Haltewinkel greift. Diesen hat Lallmann kurz zuvor mit vier Schrauben bestückt.
Mit beiden Händen kontrolliert Routinier Kögel, ob alles genau vorbereitet ist. „Oh, halt!“ Mit dem rechten Zeigefinger tippt der Brillenträger zweimal sanft gegen den Schwamm. Dann lächelt er zufrieden. „Jetzt passt alles.“ Er drückt den grünen Knopf – und binnen zwei Sekunden hat die Maschine mit einem Druck von sechs Bar die Teile pneumatisch verpresst. Auch hier garantiert eine Lichtschranke die Sicherheit des Mitarbeiters. Kögel greift nach oben. Mit einem Karabinerhaken an einem Seil befestigt, hängt dort der Stabschrauber. Dank entsprechender Voreinstellung und vier Öffnungen auf der Oberseite der Maschine fixiert der Südpfälzer die Schrauben mühelos. All das hat nur wenige Augenblicke gedauert. Kögel nimmt den fertigen Scheibenreiniger aus der Vorrichtung, hält ihn gegen das Licht, kneift die Augen zusammen, nickt und legt das Ergebnis seiner Arbeit zur Seite. Nach dem Etikettieren folgt bei der Verpackung eine zweite Qualitätskontrolle.
Innovation in sozialer Verantwortung
Keine 200 Meter Luftlinie entfernt, im Werk Offenbach 1 jenseits der Jakobstraße, sitzt derweil Heribert Boltz im max4car-Zimmer am Laptop. Der Bereichsleiter rückt seine Brille zurecht, dann tippt er weiter. In wenigen Wochen beginnt die Serienproduktion einer Weltneuheit: Bis Ende September werden die ersten Ice-Breaker in den Regalen der Baumärkte liegen. 50.000 Exemplare sollen noch in diesem Jahr an Großkunden in Deutschland und im europäischen Ausland versandt werden. „Gerade bei extrem niedrigen Temperaturen stoßen herkömmliche Eiskratzer schnell an ihre Grenzen. Ihren mehr oder weniger stumpfen Eisbrechzähnen auf der Rückseite der Schabklinge gelingt es nur bedingt, das Eis anzurauen. Anders der Ice-Breaker: Nebeneinander angeordnete, stufenförmige Eisbrechkanten sorgen für höchste Effektivität. Auch dicke, festgefrorene Eisschichten werden aufgebrochen und entfernt. Die 105 Millimeter breite, spezielle Konvex-Schabklinge passt sich bei Druck optimal an die Scheibe an und besitzt dadurch die bestmögliche Schabwirkung“, umreißt Boltz die Stärken der innovativen Neuentwicklung, die bereits Geschmacksmuster-geschützt ist und zur Patentanmeldung eingereicht wurde. In fast vierjähriger Entwicklungszeit hat das max4car-Team zusammen mit einem renommierten Designbüro ein Serienprodukt erarbeitet, das höchste Ansprüche an Qualität, Funktionalität, Formgebung und Kundenzufriedenheit gleichermaßen erfüllt. Der Ice-Breaker präsentiert sich in einer erfrischenden Optik, die ihn deutlich von der Konkurrenz abhebt. In den Trendfarben Little Boy Blue, Lime und Crocus sowie in zeitlosem Anthrazit Metallic hat er bei der internationalen Leitmesse Automechanika 2018 bereits eine Reihe von Großkunden überzeugt. Nur hochwertige Materialien kommen zum Einsatz, alle Teile stammen aus Deutschland. Die Produktion erfolgt im 20 Kilometer südlich von Offenbach gelegenen Wörth am Rhein.
„Der Ice-Breaker ist ein Premium-Produkt. Es steht für Kraft, Langlebigkeit und Vertrauen“, sagt Boltz. Dass es sich dabei auch um ein in gesellschaftlicher Hinsicht nachhaltiges Produkt handelt, davon zeugt das integrierte Lebenshilfe-Logo. „Vor allem Großkunden aus Österreich und der Schweiz haben uns darin bestärkt, diesen Aspekt noch stärker als bisher zu betonen“, erläutert Boltz. Dort existiere ein besonders ausgeprägtes soziales Bewusstsein, das die Kaufentscheidung der Verbraucher stark beeinflusse. „Bei der Lebenshilfe Südliche Weinstraße leben wir das Prinzip ,Teilhabe statt Ausgrenzungʻ Tag für Tag“, unterstreicht Geschäftsführerin Marina Hoffmann. „Wir bieten Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung vielfältige Möglichkeiten, einer sinnstiftenden Tätigkeit nachzugehen und sich ihren persönlichen Stärken und Bedürfnissen entsprechend weiterzuentwickeln. Diese Tatsache möchten wir ins Bewusstsein der Menschen rufen, die bisher noch keine oder kaum Berührungspunkte mit der Lebenshilfe hatten.“
Stolz auf die eigene Leistung
Welche Perspektiven die Lebenshilfe Südliche Weinstraße ihnen eröffnet, ist den Mitarbeitern mit Behinderung durchaus bewusst. Gleiches gilt für das, was sie selbst leisten. „Sie identifizieren sich zu 100 Prozent mit ihrer Arbeit und sind unglaublich stolz auf das Ergebnis“, so Bernd Hiegle, der die Gruppe seit 2006 leitet. Er deutet auf die Wand an der Ostseite des Raums. Dort hängen verschiedene Produkte rund ums Auto. Über ihnen prangt ein gelbes Schild mit schwarzer Schrift: „Das alles machen WIR“. „Wer mit diesen Menschen arbeitet, hat großen Respekt vor ihrem Einsatz und ihrer Leidenschaft – und behandelt sie auch so“, ist Hiegle überzeugt. „Schließlich sind es erwachsene Menschen.“
„Guckt mal“, ruft Marc Odenbach, als er das Büro von Bernd Hiegle und Oliver Eckl betritt. Stolz präsentiert er den Anwesenden seinen Hubwagen-Führerschein. Bevor er diesen bekommen hat, musste er etliche Fahrstunden nehmen und sein so erworbenes Wissen in einer Prüfung unter Beweis stellen. Von der Außenwohngruppe in der Jakobstraße hat er es nicht weit zu seinem Arbeitsplatz in Werk 2. Dort bedient er auch den sogenannten Wickelturm, eine moderne Verpackungsmaschine, die meterhohe Kartonstapel in Folie hüllt. „Das kann und darf nicht jeder“, erklärt Odenbach. „Man kann nämlich viel falsch machen.“
Seit zwei Jahren wird Bernd Hiegle in seiner Gruppe von Oliver Eckl unterstützt. „Jeder trägt so viel zum Gesamtergebnis bei, wie er kann. Die Menschen mit Behinderung haben so nicht nur einen strukturierten Ablauf, der ihnen Sicherheit gibt, sondern wissen am Ende des Tages, was sie geleistet haben. Das Ergebnis können sie mit ihren eigenen Händen greifen“, sagt Eckl. Ihm ist es wichtig, dass die Gruppenmitglieder bewusst Verantwortung übernehmen – ob für die Sauberkeit am Arbeitsplatz oder für die Umwelt. Als ein Mitarbeiter mit Behinderung vergisst, den Wasserhahn abzudrehen, ruft Eckl die Gruppe kurz zusammen. Auf ein blaues Blatt Papier skizziert er drei einfache Tortendiagramme. Sie zeigen, wie viel Wasser im Verhältnis zur Landmasse es auf der Erde gibt, welcher geringe Anteil auf Süßwasser entfällt und wo dieses gespeichert wird – etwa in Gletschern, Flüssen oder Seen. Das Resultat leuchtet allen ein: Wir dürfen kein Wasser verschwenden. Darauf will jeder Einzelne achten.
"Arbeitsraum ist auch Lebensraum"
Auch Bernd Hiegle ist neben einem vertrauensvollen Verhältnis besonders wichtig, dass Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung nicht bevormundet werden. Wann immer es möglich ist, sollen sie eigenständig entscheiden und handeln. Als Abschlussarbeit zur Geprüften Fachkraft zur Arbeits- und Berufsförderung in Werkstätten für behinderte Menschen setzte Hiegle schon Ende 2011 auf ein unkonventionelles Projekt. „Arbeitsraum ist auch Lebensraum“, ist der Gruppenleiter überzeugt, „dort muss man sich wohlfühlen.“ Deshalb lud er die Gruppenmitglieder dazu ein, Ideen zur Verschönerung einer bis dahin schmucklosen weißen Wand zu sammeln und darüber zu diskutieren. Schnell einigten sich die Mitarbeiter mit Behinderung auf eine großflächige Fototapete mit einem Motiv aus der Toskana. In einem Fachgeschäft kauften sie selbst Wandfarbe in einem dazu passenden Grünton. Nach ein paar Jahren hatten sie sich daran satt gesehen. 2018 folgte auf den Wunsch der Gruppe hin ein neuer Anstrich in einem hellen, freundlichen Gelb. Dazu gab es ein neues Motiv, das die Mitglieder ausgesucht hatten. An ihrem Arbeitsplatz im südpfälzischen Offenbach genießen sie heute bei jedem Wetter eine erstklassige Aussicht: auf einen Leuchtturm am Strand von Sylt.
Autor:Dennis Christmann aus Offenbach |
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