16 neue Stolpersteine erinnern an die Schicksale Speyerer Juden

Zum Jahrestag der Deportation von mehr als 6.500 Jüdinnen und Juden aus Baden, der Pfalz und dem Saarland  werden in Speyer 16 neue Stolpersteine verlegt | Foto: Stadtarchiv Ludwigshafen
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  • Zum Jahrestag der Deportation von mehr als 6.500 Jüdinnen und Juden aus Baden, der Pfalz und dem Saarland werden in Speyer 16 neue Stolpersteine verlegt
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Speyer. Am frühen Morgen des 22. Oktober 1940 klopfen überall in der Pfalz, im Saarland und in Baden Uniformierte an die Türen jüdischer Bürger und fordern sie dazu auf, in einer Stunde abmarschbereit zu sein; die Juden würden "ausgewiesen". Mehr als 6.500 "transportfähige Volljuden", unter ihnen viele Kinder, alte Menschen und Behinderte, werden mit neun Zügen nach Frankreich verfrachtet. Die unter dem Namen "Wagner-Bürckel-Aktion" berüchtigte Deportation wird unter größter Geheimhaltung organisiert. Drei Tage und vier Nächte dauert die Fahrt. Dann werden die Gefangenen auf Lastwagen verladen und ins Internierungslager nach Gurs in der Nähe der spanischen Grenze gebracht. Viele überleben bereits die Strapazen der Fahrt nicht.

Es ist der Jahrestag der Deportation der Saar-Pfälzischen Juden nach Gurs, an dem am Dienstag, 22. Oktober, in Speyer 16 weitere Stolpersteine verlegt werden. Organisiert wird diese siebte Stolpersteine-Verlegung von der Speyerer Initiative Stolpersteine. Schülerinnen und Schüler des Edith-Stein-Gymnasiums sowie des Gymnasiums am Kaiserdom verlegen die Steine, final kümmern sich dann die Profis des Speyerer Bauhofs um die Verlegung. An den Verlegestellen werden die Biografien der Speyerer Mitbürger, die dort einst gelebt haben, verlesen.

Kurt und Walter Goldschmidt

Um 10 Uhr findet zunächst ein Empfang im Historischen Ratssaal statt. Dann geht es in die Maximilanstraße 96, wo künftig zwei Steine an Kurt und Walter Goldschmidt erinnern sollen. Der aus Frankfurt stammende Kaufmann Julius Goldschmidt ist in erster Ehe mit Eugenia Westheimer verheiratet. Sie führen das Mode- und Putzwarengeschäft Westheimer & Cie. in der Maximilianstraße 14. Zwei Kinder kommen zur Welt: Heinrich 1897 und Milli 1906. Milli heiratet einen Nichtjuden, sie ziehen später nach Augsburg. Noch  im Februar 1945 wird sie nach Theresienstadt verschleppt; sie überlebt das Lager.

Ihr Bruder Heinrich arbeitet jahrelang beim Zirkus. Als dieser mit Kriegsbeginn schließen muss, wird er in  Schleusingen/Thüringen sesshaft. Unter einem Vorwand verhaftet man ihn Ende 1939; nach dreimonatigem Gefängnisaufenthalt wird er Anfang 1940 in das Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert und stirbt dort im September desselben Jahres. Julius Goldschmidt heiratet 1916 die katholische Anna Maria („Lenchen“) Oderbreit, mit der er ab 1922 ein Gemischtwarengeschäft in der Maximilianstraße 8 führt, wo sich heute das MediaTor befindet.

Vom Kind bis zum Greis: Bei der Wagner-Bürckel-Aktion werden Juden aus der Pfalz, dem Saarland und Baden ins Internierungslager nach Gurs deportiert | Foto: Stadtarchiv Ludwigshafen
  • Vom Kind bis zum Greis: Bei der Wagner-Bürckel-Aktion werden Juden aus der Pfalz, dem Saarland und Baden ins Internierungslager nach Gurs deportiert
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Ihre beiden Söhne Kurt und Walter werden katholisch getauft und erzogen. Nach dem Tod des Vaters muss das Geschäft aufgegeben werden. Die Mutter ernährt die Familie mit Zimmervermietung im Anwesen Maximilianstraße 96, wohin alle im April 1933 gezogen waren. Mitte 1940 heiratet die Mutter ein zweites Mal. Nach der Machtübergabe an Adolf Hitler 1933 gelten die beiden Söhne als „Halbjuden“. Walter ist deshalb der Besuch von Handelsschule oder Gymnasium verwehrt. Nur mit Mühe gelingt es ihm, eine Lehrstelle als Bäcker zu finden. Durch den Einsatz des Bäcker- und Innungsmeisters Fleischmann wird er zur Prüfung zugelassen und kann die Lehre mit einem Gesellenbrief abschließen. Danach kommt er in der Militärbäckerei neben dem St.-Guido-Stifts-Platz unter.

Walter wird im Frühjahr 1944, da „wehrunwürdig“, zwangsweise zur Organisation Todt eingezogen und muss gefährliche Zwangsarbeit in der besetzten Normandie leisten: Reparatur zerstörter Gleisanlagen, später Schanzarbeiten. Im März 1945 wird er von US-Truppen befreit. Der gelernte Kaufmann Kurt Goldschmidt dient als „Halbjude“ in der Wehrmacht, kämpft in Frankreich und Russland. Er überlebt, heiratet später und bekommt zwei Kinder. Walter Goldschmidt heiratet 1946, arbeitet zunächst in einer französischen Militärbäckerei, später als Angestellter im hiesigen Wasser- und Schifffahrtsamt, danach im Straßenbauamt. Nach seiner Pensionierung wird Walter Goldschmidt in Speyer als Hobbyhistoriker bekannt, ist vielfach ehrenamtlich engagiert.

Hermann, Amalia, Margarete und Franz Bonem sowie Flora Süßel

Die zweite Verlegung findet nur wenige Häuser weiter in der Maximilianstraße 78 statt. Hier werden fünf Steine verlegt, für das Ehepaar Hermann und Amalia Bonem, geborene Süßel, ihre beiden Kinder Margarethe und Franz sowie Amalias Mutter Flora Süßel, geborene Cahn. Die jüdische Pfälzer Metzgerdynastie ist in Speyer seit etwa 1800 nachgewiesen. Metzgermeister Samuel Süßel zieht von Altdorf nach Speyer, wo er 1851 Esther Scharff heiratet. Von ihren neun Kindern werden zwei – Leopold und Maximilian – wiederum Metzger. Samuels Töchter Friederike und Natalie heiraten selbst Metzgermeister.

Leopold erwirbt 1886 den schmalen Bau Maximilianstraße 78. Nach seinem Tod 1925 führt seine Witwe Flora die Metzgerei weiter, dann übernimmt Schwiegersohn Hermann Bonem, Ehemann von Floras Tochter Amalia, genannt Mally. Wie viele Benachteiligungen, Einschränkungen und Anfeindungen die Familie Bonem seit 1933 erfahren muss, ist unbekannt. Am 22. März 1937 veräußern sie Haus und Betrieb an das Metzgerehepaar Theodor Eder. Mutter Flora Süßel zieht wenige Wochen danach zu ihrer verwitweten Tochter nach Mannheim, wo sie im Dezember stirbt.

Das Ehepaar Hermann und Mally Bonem war bereits am 30. Mai 1937 mit den Kindern Margarethe und Franz Leopold in die USA geflüchtet. In Cincinnati arbeitet Hermann weiterhin als Metzger; 1961 stirbt er. Sohn Franz (USA: Frank) dient als Freiwilliger in einem Infanterieregiment. Von Februar bis etwa August 1945 ist er in Europa eingesetzt, besucht nach Kriegsende auch die elterliche Wohn- und Wirkstätte in Speyer. Leopolds Tochter Elisabeth („Elsa“), heiratet 1909 einen Haßlocher Zigarrenhändler. Die Witwe wird 1940 nach Gurs deportiert und 1942 über Drancy nach Auschwitz verschleppt. Beider Tochter Trude Theres heiratet 1938 und flüchtet im selben Jahr nach New York.

Internierungslager Gurs in Frankreich | Foto: rechtefrei
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Eugen, Klara und Nepomuk Blum

In der Wormser Straße 8 werden künftig drei Steine an Eugen Blum, Klara Blum, geborene Mosl, und Nepomuk Blum erinnern. Eugen Blum ist von Beruf Rechtsanwalt. Er ist von 1907 bis 1929 in München tätig, unterbrochen von seiner Teilnahme am Ersten Weltkrieg, dann sechs Jahre lang in Bad Dürkheim bis zum Berufsverbot. Das sogenannte „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ zwang Bürger jüdischer Abstammung ihren Beruf aufzugeben. Antidemokratische Gesetzgebung und Antisemitismus brachten zunehmende Entrechtung und antijüdische Aktionen. Bereits 1933 kam es zu Ausschreitungen. Eugen Blum wurde morgens gegen 4 Uhr durch Mitglieder und Anhänger der NSDAP, uniformierte SA- und SS-Leute, Arbeitsdienstfreiwillige und auch Zivilisten aus seiner Wohnung herausgeholt – ohne Haftbefehl – in "Schutzhaft" genommen, geschlagen mit Schulterriemen und Koppeln, aber auch mit einem schweren Stuhl und derart zugerichtet, dass er bei der Ankunft im Gefängnis blutüberströmt sofort ins Krankenhaus gebracht wurde.

Der Mann wurde unterwegs auf der Straße geschlagen und getreten, so dass er mehrmals zusammenbrach. Beim Eindringen in die Wohnung wurden Türen eingedrückt und Fenster eingeschlagen. Eugen Blum durfte sich nicht einmal anziehen, sondern wurde barfuß im Nachthemd ins Gefängnis geschleppt. Die Angehörigen wurden bedroht und eingesperrt. Am 8. Juli wird der Rechtsanwalt entlassen, mit der Weisung, sich für einige Zeit von Bad Dürkheim zu entfernen unter Angabe des Aufenthaltsortes und mit der Auflage, sich täglich bei der Gendarmerie zu melden.

Mit seiner katholischen Frau Klara, einer Volksschul- und Klavierlehrerin, lebt er in sogenannter „privilegierter Mischehe“ und entgeht somit der Deportation der Speyerer Juden nach Gurs. Er stirbt in Speyer am 18. April 1946 an den Folgen der 1933 erlittenen Misshandlungen, nach Aussagen einer Verwandten verarmt und krank. Seine Frau stirbt 1949. Ihr Sohn, Johannes Nepomuk Blum, genannt Hans, muss als „Halbjude“ das Humanistische Gymnasium in Speyer verlassen und beendet seine Schulzeit in einer Internatsschule im Schwarzwald. Er wird nach dem Krieg Maschinenbauingenieur bei AEG in Berlin und zeichnet sich durch Erfindungen aus.

Jeder Stein steht für einen verfolgten Menschen

Ernst Mayer

In der Schützenstraße 7 lebte Ernst Mayer. Der spätere Speyerer Kaufmann wird am 1. November 1875 in Niederhochstadt in der Pfalz als drittes von fünf Kindern des Kaufmanns Sigmund Mayer geboren. Sigmund etabliert sich in Speyer mit der Firma „Alex Mayer, Weinhandlung, Branntweinbrennerei, Liqueur- und Essigfabrik“ in der Schützenstraße 7, benannt nach seinem eigenen Vater Alexander Mayer, der bereits in Niederhochstadt eine Brennerei gegründet hatte. Als Kaufmann, Gründer und Ehrenvorsitzender des Pfälzischen Spirituosenverbandes dürfte Sigmund Mayer großes Ansehen genossen haben, auch erwarb er Verdienste in der jüdischen Fürsorgepflege. Aus Erzählungen von Zeitgenossen ist der Name „Schnaps-Mayer“ überliefert, unter dem der Geschäftsmann  in der Stadt bekannt gewesen ist. 

Nach dem Tod des Vaters im Jahr 1926 übernimmt Ernst Mayer zusammen mit seinem Bruder Otto das Geschäft. Es wird in der Folge als „Alex Mayer Sohn, DampfBranntweinbrennerei, Likör- und Essigfabrik“ bezeichnet. Am 19. Oktober 1929 tritt Otto Mayer per Vertrag aus dem Unternehmen aus; der bisherige Kontorist Philipp Back wird Mitinhaber. Otto folgt mit seiner Frau Mina dem bereits vorher ausgewanderten älteren Halbbruder Ludwig in die USA, wo er 1965 stirbt. 

1933 übergibt Ernst Mayer die Firma an seinen Geschäftspartner Philipp Back und scheidet mit sofortiger Wirkung aus. Das Anwesen in der Schützenstraße bleibt Eigentum von Ernst Mayer, wird dem neuen Firmeninhaber gegen eine jährliche „Entschädigungszahlung“ zur Nutznießung überlassen und per Vertrag vererbt. Seiner Halbschwester Irma, die 1897 den Basler Bankprokuristen Raphael Zivi geheiratet hatte und nach dem frühen Tod ihres Ehemannes 1920 nach Speyer zurückgekehrt war, wird ein lebenslanges Wohnrecht im zweiten  Stockwerk garantiert. Sie wohnt dort bis zu ihrer Emigration nach Basel im Juni 1933.
Ernst Mayer lebt nach 1933 an dieser Adresse als „Privatier“. Im November 1938 werden in der Reichspogromnacht Juden aus ihren Häusern getrieben und misshandelt. Ernst Mayer wird vom 12. bis zum 28. November im Konzentrationslager Dachau interniert.

Am 30. November 1938 stellt er bei der Polizei Speyer einen Antrag auf einen Reisepass, um in die Schweiz ausreisen zu können. Die Ausreise, vermutlich zu der Halbschwester Irma, glückt offensichtlich nicht. Am 22. Oktober 1940 wird er im Zuge der „Wagner-Bürckel-Aktion“ nach Südfrankreich in das Lager Gurs deportiert und von dort im Frühjahr 1941 ins Internierungslager Récébédou verlegt. Dort stirbt er am 7. Februar 1942 und wird auf dem Friedhof Portet-sur-Garonne bei Toulouse beerdigt. Eine Gedenktafel auf dem jüdischen Friedhof Speyer erinnert an ihn.

Betty und Eugenie Blum

Zwei weitere Stolpersteine kommen in der Landauer Straße 60 hinzu. Hier lebten Betty und Eugenie Blum, geborene Fischel. Betty Blum wird am 1882 in Niederkirchen bei Kaiserslautern geboren, wo ihre Eltern Moritz Blum und Eugenie, geborene Fischel eine Eisenwarenhandlung betreiben, die von den Großeltern Isac und Marianne Felsenthal gegründet worden war. Eugenie arbeitet im Geschäft ihres Mannes mit. 

Betty wächst mit ihren Schwestern Martha und  Lisa sowie ihrem Bruder Eugen auf. Sie ist neun Jahre alt, als die Familie nach Speyer übersiedelt, wo die Eltern das Geschäft in der Wormser Straße 8 eröffnen. Zunächst wohnen die Blums im Geschäftshaus, bis Betty und ihre Mutter 1931 zur Miete in die Villa am Rosensteiner Hang ziehen. Nach Abschluss der höheren Töchterschule in der Hagedornsgasse zieht es Betty nach England. In London bringt sie den Kindern des Konsuls von Nicaragua Fremdsprachen bei und gibt ihnen Klavierstunden. Nach Speyer zurückgekehrt, übernimmt sie aushilfsweise eine Lehrerstelle in ihrer ehemaligen Schule für Englisch, Französisch, Rechnen, Geschichte und Erdkunde.

1919 stirbt ihr Vater und sie übernimmt die Leitung der Eisenwarenhandlung, die sie äußerst erfolgreich führt. Sie verschafft sich Respekt und wird in der Speyerer Gesellschaft scherzhaft die „Eiserne Jungfrau“ genannt. Vielseitig interessiert und sportlich, engagiert sich die Zigarrenraucherin auch in der Kommunalpolitik. Im Gegensatz zu ihren Geschwistern, die christliche Ehepartner geheiratet hatten, bleibt sie ledig. Am 1. Januar 1936 wird das Geschäft „arisiert“. Daraufhin fasst sie den Entschluss, zu ihrer Schwester Lisa nach Ostafrika auszuwandern. Der Reisepass war schon ausgestellt. Zur Ausreise kommt es nicht mehr, da Betty Blum an den Folgen einer Operation am 18. April 1936 im jüdischen Krankenhaus in Mannheim stirbt. Bettys Schwester Martha wird von Ludwigshafen aus  im Juli 1942 in das Ghetto Theresienstadt nach Böhmen verschleppt. Sie überlebt die Shoah. 2009 wurde für sie in Ludwigshafen ein Stolperstein verlegt.

Eugen, Alice und Nina Roos

Die diesjährige Eigenverlegung von Stolpersteinen endet in der Burgstraße 11. Drei Steine werden hier an Eugen, Alice und Nina Roos erinnern. Die Geschichte der Familie Roos in Speyer lässt sich bis ins 18. Jahrhundert zurück verfolgen, als der Metzger Nathan May mit seiner Frau Edel Benedict und Sohn Anschel aus dem Elsass einwandert. Gemäß napoleonischem Recht nehmen sie neue Namen an und werden ab 1808 als Jonathan und Amalia Roos in Speyer geführt. Sie haben insgesamt neun Kinder. In der Hundgasse (heute Gutenbergstraße) betreiben sie ein Wirtshaus, das vom jüngsten Sohn des Paares, Moritz, geboren 1812, übernommen wird. Er engagiert sich bereits in der Lederbranche, was für die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte der Familie bis ins 20. Jahrhundert von Bedeutung sein wird.

Bernhard Roos, am 1. Juni 1840 als erster Sohn von Moritz Roos und seiner Frau Louise in Speyer geboren, eröffnet 1864 ein Leder- und Gamaschengeschäft, aus dem sich eine kleine Schuhfabrikation entwickelt. 1869 heiratet er Natalie David. Das Paar bekommt zwischen 1870 und 1879 drei Töchter und drei Söhne. Die Söhne Eugen, August und Karl sind als Kaufleute in der Lederbranche tätig und übernehmen die Speyerer Schuhfabrik in der Burgstraße nach dem Tod des Vaters. 

Die Brüder Roos sind als Fabrikanten wirtschaftlich erfolgreich und wie bereits die vorherigen Generationen gesellschaftlich integriert und hoch angesehen. Doch mit der  Machtübergabe an die Nationalsozialisten ändert sich alles: Die Schuhfabrik Roos wird 1935 in eine GmbH unter Leitung des nicht-jüdischen Betriebsleiters Volz umgeformt und dadurch „arisiert“. Die Brüder Roos sind nur noch als Kürzel im Firmennamen erkennbar. 1955 schließlich wird die RoVo GmbH von der Firma Salamander übernommen und in den 1970er Jahren geschlossen. Auf dem Gelände der ehemaligen Firmengebäude befinden sich heute Wohnungen und Garagen. Das Wohnhaus der Familie, die sogenannte „Villa Roos“, ist erhalten geblieben.

Die Lebenswege der Schwestern Roos ähneln sich. Sie heiraten jüdische Geschäftsleute und folgen ihren Ehemännern an deren Wohnorte. Melanies Mann stirbt 1942 in Mainz, sie selbst wird 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo sie 1943 stirbt. Beider Tochter wird 1942 in das Ghetto Piaski deportiert und stirbt dort. Sohn Walter überlebt die Shoah in Mainz. Lucies und ihr Mann, möglicherweise auch ihr Sohn, flüchten 1939 nach Brasilien, ihre Tochter in die Schweiz, später in die USA und überleben dadurch die Shoah. Karoline, die in die bekannte Münchner Familie Bernheimer geheiratet hatte, flüchtet in die USA und kehrt 1958 nach Europa zurück. Die Brüder Karl und August leben in Mannheim. Dort stirbt Karl 1936. August tötet sich 1942 selbst. Für ihn ist im Frühjahr 2024 in Mannheim ein Stolperstein verlegt worden.

Eugen heiratet die 1879 in Frankfurt geborene Alice Mayer und hat seinen Lebensmittelpunkt in Speyer. Hier werden drei Kinder geboren: Nina, Madeleine und Hans-Albrecht. Madeleine heiratet den nichtjüdischen Schuhfabrikanten Louis Schwarz aus Landau, der 1939 stirbt. Sie heiratet 1947 ein zweites Mal; nach der Scheidung 1959 nimmt sie wieder den Namen Roos an. 1998 stirbt sie hochbetagt in Landau. Madeleine Roos hat in den 70er Jahren Speyer besucht und die Gebäude der Schuhfabrik 1978 vor ihrem Abriss noch einmal besichtigt. Hans-Albrecht emigriert 1938 nach Missouri, USA. Nina, nach Zeitzeugenaussagen belastet durch körperliche Gebrechen, bleibt ledig und wohnt mit ihrer Mutter Alice bis zur ihrer Deportation in Speyer.

Eugen Roos tritt 1908 aus der jüdischen Religionsgemeinschaft aus. 1936 richtet er in Speyer für sich und seine Frau ein Taufbegehren an die evangelische Kirchengemeinde, dem das Presbyterium zustimmt. Nach Intervention einer Reihe von Gemeindemitgliedern, die sich gegen die Taufe von Juden wenden und mit Kirchenaustritt drohen, zieht Eugen den Wunsch zurück. Er stirbt 1937 in Ludwigshafen, die letzte Speyerer Wohnadresse lautet Burgstraße 6.

Die meisten Speyerer Juden werden am 22. Oktober 1940 zusammengetrieben und nach Gurs in Südfrankreich deportiert. Alice und Nina Roos, möglicherweise geschützt durch christliche Verwandte, leben in Speyer in der Burgstraße bis 1942, dann werden auch sie von der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik eingeholt. Alice Roos wird im Juli 1942 ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Dort stirbt sie am 10. Januar 1943. Gemeinsam mit ihrer Mutter wird auch Nina Helena Roos deportiert; am 15. Mai 1944
verschleppt man sie von Theresienstadt nach Auschwitz, wo sie ermordet wird.

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Cornelia Bauer aus Speyer

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