Reisebericht von Dr. Matthias Nowack
Kultur als Motor der Stadtentwicklung
Chichester. Ein blauer englischer Himmel, angenehme sommerliche Temperaturen und das schrille Gekreische der Seemöwen in der Luft sind die ersten Wahrnehmungen der beiden Speyerer Gäste, die Ende vergangener Woche nach Chichester gereist sind: Bürgermeisterin Monika Kabs und Fachbereichsleiter Matthias Nowack sind nach West-Sussex gekommen, um die Möglichkeiten einer neuen Verbindung mit der südenglischen Stadt auszuloten.
Mit knapp 28.000 Einwohnern würde man Chichester wohl eher als Kleinstadt bezeichnen. Aber schon beim ersten Stadtrundgang mit Stadtrat Craig Gershater und Stadträtin Anne Scicluna wird deutlich, dass es viele Gemeinsamkeiten zwischen Speyer und Chichester gibt: Die römische Stadtgründung, ein kompaktes historisches Zentrum, das fußläufig leicht zu erschließen ist, eine bedeutende Kathedrale und ein starkes kulturelles Profil gehören dazu.
Auffallend in Chichester ist, dass kulturelle Programme im Zentrum vieler Aktivitäten stehen: Die kleine Stadt in West-Sussex hat seit 1962 ein Theater- und Musical-Festspielhaus mit zwei Bühnen und einer Kapazität von 1.400 Sitzplätzen in ihren Mauern. Es gehört zu Großbritanniens Vorzeige-Theatern hinsichtlich Qualität und Innovation und verfügt über internationale Reputation. Darüber hinaus findet in Chichester alljährlich ein Internationales Filmfestival statt. Mit der „Pallant House Gallery“ hat die Stadt ein Kunstmuseum, das gleich nach der „Tate Modern“ in London in der ersten Liga der britischen Museen für moderne Kunst mitspielt. Zu sehen ist dort derzeit die Ausstellung „Flesh and Spirit“, die das Werk des bedeutenden englischen Malers Glyn Philpot (1884-1932) erstmals wieder einer breiten Öffentlichkeit zugänglich macht.
Selbst die berühmte Kathedrale von Chichester ist Ausstellungsort für moderne Kunst. Für diese Kathedrale hat Marc Chagall ein knallbuntes Kirchenfenster geschaffen und Leonard Bernstein die „Chichester Psalms“ komponiert. Auch wechselnde Kunstausstellungen, Installationen und Arbeiten von zeitgenössischen Künstler*innen, haben in diesem Gotteshaus ihren Platz.
Chichester hat in den vergangenen Jahrzehnten konsequent auf kulturelle Aktivitäten gesetzt, um für Bewohner*innen wie Besucher*innen der Stadt ein erfahrbares kreatives Umfeld zu schaffen. Kultur wurde zum Motor der Stadtentwicklung erkoren. Das belegt eindrucksvoll eine Ausstellung unter dem Titel „The ART of Chichester - 60 years of creativity“ (Die KUNST von Chichester – 60 Jahre Kreativität) im Stadtmuseum, dem „Novium“. Die Ausstellung erzählt die Geschichte einer kleinen Stadt an der Südküste Englands, die sich in den letzten 60 Jahren in einen Ort verwandelt hat, an dem verschiedene kulturelle Ausdrucksformen und Institutionen eine sehr prominente Rolle spielen.
Chichester wird liberaldemokratisch regiert: Mit den Gästen aus Speyer sitzen keine „Brexeteers“ am Verhandlungstisch. Der Brexit und seine Folgen werden von den Gastgebenden als großes Desaster für England beschrieben, unter dem vor allem die Jugend leide. Als wichtiges Beispiel wird mehrfach der Wegfall der Erasmus-Programme genannt. Er bedeute einen großen Verlust für junge Menschen in England mit Blick auf Studien- und Ausbildungsmöglichkeiten und erste berufliche Kontakte in andere europäische Ländern. Es wird deshalb als wichtiger Auftrag der Stadtpolitik betrachtet, neue Wege nach Europa zu öffnen: Städtepartnerschaften gehören dazu.
In zwei Arbeitstreffen im „Council House“ verhandeln Bürgermeister Julian Joy und mehrere Stadträte und Stadträtinnen mit den Speyerer Gästen, wie neue Kontakte zwischen Speyer und Chichester entstehen können. Kulturaustausch, sportliche Begegnungen, Bürgerreisen und Schüleraustauschprogramme sollen in den nächsten Jahren das Kennenlernen ermöglichen. Zu letzterem Thema, dem Schüleraustausch, haben die Speyerer bereits eine Interessensbekundung des Nikolaus-von-Weis-Gymnasiums in den Gesprächsunterlagen. Der Vorschlag wird von der Verwaltung in Chichester dankbar aufgegriffen, man werde sich um eine geeignete Partnerschule in Chichester kümmern, heißt es zum Abschluss des ersten Gesprächs im Council Haus.
Erstaunlich ist für die Speyerer auch, dass in Chichester bereits ein Freundeskreis für neue Kontakte nach Speyer aktiv ist. Rob und Liz Cameron sitzen mit am Verhandlungstisch und berichten von Überlegungen dazu, die bis ins Jahr 2019 zurückreichen. Unabhängig von der Verwaltung und angeregt von Freunden aus Ravenna und Chartres habe sich eine Runde von circa 20 Personen in unregelmäßigen Abständen im Pub getroffen, um eine Städtefreundschaft mit Speyer anzuregen. Corona habe dann leider viele Ideen zunichte gemacht.
Dass Ravenna und Chartres bereits eng mit Chichester verbunden sind, ist überhaupt ein wichtiges Argument in dieser Gesprächsrunde: Im Vierer-Bund mit Speyer, Chartres und Ravenna wären die wichtigsten europäischen Länder auch in der lokalen Außenpolitik von Chichester vertreten, so Stadtrat Craig Gershater. In Chichester denkt man europäisch. Der dortige Stadtrat hat den Brexit längst hinter sich gelassen.
Mit dem Besuch der Musical-Produktion „Crazy for you“ im Festspieltheater von Chichester geht der zweitägige Besuch der kleinen Speyerer Delegation zu Ende. Sie sei „dankbar für den intensiven und umfassenden Einblick in das Stadtgeschehen von Chichester. Es gäbe zahlreiche Gemeinsamkeiten der beiden Städte und man sei sich ein ganzes Stück nähergekommen“, sagt Bürgermeisterin Monika Kabs beim Abschied am Freitagabend. Die Tür für eine neue Speyerer Partnerstadt in England ist weit geöffnet. Im Herbst diesen Jahres werden beide Stadträte - in Speyer und in Chichester - beraten, wie es mit dieser Städtefreundschaft weitergehen wird.
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