So geht es den Tafeln im Land - Interview mit der Landesvorsitzenden
Seit 30 Jahren gibt es in Deutschland Tafeln. Viele von Armut betroffene Menschen sind inzwischen auf die Lebensmittelspenden der Tafel angewiesen. Doch Ukraine-Krieg, Inflation und Altersarmut machen der größtenteils von Ehrenamtlichen getragenen Organisation zu schaffen. Cornelia Bauer sprach mit Sabine Altmeyer-Baumann. Sie ist die Vorsitzende des Landesverbands der Tafel Rheinland-Pfalz/Saarland.
???: Daseinsvorsorge und die Bekämpfung von Armut sind originäre Aufgaben des Staates. Wie passen die Tafeln da rein?
Sabine Altmeyer-Baumann: Das Grundgesetz verweist an verschiedenen Stellen darauf, dass der Staat Maßnahmen zur Sicherung eines menschenwürdigen Lebens ergreifen muss. Es ist aber auch eine Tatsache, dass es Menschen in Armutslagen bei uns im Land gibt. Als Tafeln sind wir mit im Boot, um Probleme abzumildern und Menschen zu entlasten - mit Lebensmitteln, die ansonsten weggeworfen würden, aber auch mit anderen Hilfen. Ich halte es gesellschaftspolitisch für wichtig, dass sich alle an dieser großen Aufgabe eines solidarischen Miteinanders beteiligen.
In Rheinland-Pfalz ging die fast schon explosionsartige Gründung von Tafeln einher mit der Hartz IV-Gesetzgebung in den Jahren 2005/06. Die Tafeln hier im Land sind also von Anfang an mit dem Anspruch angetreten, Lebensmittel an Menschen in Not zu verteilen - Lebensmittel zu retten und zugleich Menschen in Not zu unterstützen, sind uns untrennbare Anliegen.
???: Viele Supermärkte scheinen inzwischen anders zu disponieren und riskieren auch mal leere Regale. Das bedeutet, dass weniger Lebensmittel aussortiert werden, das müsste ganz im Sinne des Tafelgedankens sein, oder doch nicht?
Altmeyer-Baumann: Wenn Lebensmittel nicht in der Tonne landen, dann unterstützen wir das, aber natürlich schlagen bei dem Thema zwei Herzen in meiner Brust: Wenn wir die Situation unserer Gäste in den Blick nehmen, dann ist es so, dass wir erstmal weniger Lebensmittel zur Verfügung haben - und gleichzeitig durch Corona, Inflation und den Krieg in der Ukraine einen enormen Zuwachs an Menschen haben, die unsere Hilfe suchen.
"Die Mühlen mahlen beim MHD viel zu langsam"
Wir müssen also an unterschiedlichsten Stellschrauben drehen. Eine davon ist das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD), ein Thema, an dem wir seit vielen Jahren dran sind. Tatsache ist: Es gibt immer noch Waren, die der Handel abgeben könnte. Bereits einen Tag nach Ablauf des MHD tut er das aber nicht mehr - aus Haftungsgründen. Für uns ist das Produkt nicht mehr zu bekommen, obwohl es völlig in Ordnung ist und wir Menschen in den Tafeln haben, die das Produkt dringend brauchen. Stattdessen landet es in der Tonne.
Wir versuchen auf allen Kanälen, diese Misere zu drehen. Wir unterschreiben bei den Händlern, dass wir selber haften. Und unsere Gäste unterschreiben in den Tafeln ebenfalls einen Verzicht. Doch diese Haftungskette reicht dem Handel nicht, er sieht sich juristisch in einer Grauzone. Seit 2019 wird in Bund-Länder-Gremien zum Abbau von Hürden in der Weitergabe von Lebensmitteln beraten. Seit Februar diesen Jahres liegt erstmals ein Rechtsgutachten vor, das unsere Ansicht zur Abgabe nach MHD unterstützt und das jetzt weiter in den Ländern beraten wird – allerdings mit offenem Ausgang.
Hier mahlen die Mühlen viel zu langsam und viele Tafeln sind zurecht sauer, dass die Vielzahl der Menschen, die bei uns in der Tür stehen, nicht von den täglich weiter in der Tonne landenden Lebensmitteln profitieren können. Zudem führt der Handel inzwischen auch selbst mehr eigene Abverkäufe durch und bietet den Kunden "Rettertüten" mit Obst und Gemüse an. Wenn aus diesen Tüten am Ende doch noch etwas bei den Tafeln landet, sind diese Produkte inzwischen nicht besser geworden. Das führt zu einem höheren Sortieraufwand bei den Tafeln und vieles muss entsorgt werden. Wir haben es mit Menschen zu tun und geben nichts weiter, was wir selbst nicht noch guten Gewissens essen würden.
"Großspenden von Herstellern nehmen den Druck aus den Tafeln"
Parallel zum Kampf an der "MHD-Front" nutzt der Landesverband weitere Stellschrauben, an denen es Verluste in der Wertschöpfungskette gibt: bei Erzeugern und Produzenten etwa. Hier generieren wir Großspenden in Lastwagenformaten. Diese Waren sind top, und beispielsweise nur fehlerhaft etikettiert. Herstellerspenden sind eine gute Möglichkeit, den Druck aus den Tafeln zu nehmen.
???: Aufnahmestopps und Wartelisten bei den Tafeln im Land erfordern kreative Konzepte, bedeuten aber auch weniger Lebensmittel für jeden Einzelnen - was macht die Situation mit den ehrenamtlichen Helfern?
Altmeyer-Baumann: In der Geschichte der rheinland-pfälzischen Tafeln ist es ein Novum, dass wir nicht mehr allen Menschen sofort ein Tafelangebot machen können. Trotz der Pandemie haben wir's noch gut hingekriegt, aber seit etwas mehr als zwei Jahren ist die Situation schwierig und macht den Ehrenamtlichen natürlich zu schaffen. Dass sie dennoch weiter machen, sich den Kopf zerbrechen und nach pragmatischen Lösungen suchen, statt gefrustet nach Hause zu gehen, das berührt mich. Da steckt so viel Herzblut drin - und die Überzeugung: Es lohnt sich, sich hier einzubringen für die Menschen, die zu uns kommen.
???: Mehr armutsbetroffene Menschen, weniger Lebensmittelspenden, Belastung im Ehrenamt - Fühlen Sie sich von der Politik alleine gelassen?
Altmeyer-Baumann: Deutschland geht es noch immer gut; alle sollten ihren Beitrag zu einer würdevolle Existenzsicherung leisten. Im Stich gelassen fühle ich mich von politischen Vertretern, die populistisch Misstrauen streuen und sich herablassend über Menschen äußern, die sie gar nicht kennen. So kommen wir sozialpolitisch zu keinen guten Lösungen. Vor allem aber wird das den Menschen, denen wir in den Tafeln tagtäglich begegnen, in keiner Weise gerecht. Zum Glück gibt es viele Menschen, die dagegen halten. Ich bin davon überzeugt: Es lohnt sich, für alle Menschen in Deutschland eine gute Sozialpolitik zu machen, um den Zusammenhalt in unserem Land nicht zu gefährden.
Die Landesregierung unterstützt uns seit mehreren Jahren insbesondere bei den logistischen Herausforderungen und mit Sonderförderungen. Bei den Kommunen sind die Erfahrungen der Ortstafeln sehr unterschiedlich: Es gibt Kommunen, die Tafeln in keiner Weise finanziell unterstützen, aber in aller Selbstverständlichkeit zu Beginn des Ukraine-Krieges die Menschen sofort an die Ortstafel weiterverwiesen haben. Andere Kommunen dagegen haben verstanden, dass die Tafel ein Aushängeschild für ein solidarisches Miteinander für ein Gemeinwesen ist und beteiligen sich zum Beispiel an der Miete oder an den Entsorgungskosten.
"Seit der Pandemie wissen viel mehr Menschen, was die Tafel ist"
???: Wie schätzen Sie heute den Stellenwert der Tafeln für die Menschen in Rheinland-Pfalz ein?
Altmeyer-Baumann: Ich glaube, dass vor Corona viele Menschen in Rheinland-Pfalz die Tafeln gar nicht so wahrgenommen haben; die Tafeln sind ihrem Tagesgeschäft mehr oder weniger öffentlich nachgegangen. Seit der Pandemie wissen viel mehr Menschen, was die Tafel ist. Denn viele haben sich in diesen ersten Monaten 2020 gefragt, was eigentlich mit armen Menschen in der Pandemie passiert und erstmals mitbekommen, dass nach wenigen Wochen pandemiebedingter Schließungen die Tafeln in Notausgaben und mit rasch aufgebauten Bring-Diensten weiter Lebensmittel verteilen konnten.
Inzwischen wissen wir: Wir sind sehr bekannt bei der Bevölkerung im Land. Und auch unser Stellenwert bei den Menschen, die uns brauchen, ist in den vergangenen Jahren weiter gestiegen. Vor Corona haben die Tafeln in Rheinland-Pfalz etwa 54.000 Menschen unterstützt, das entspricht etwa 1,3 Prozent der Bevölkerung im Land. Inzwischen sind es rund 70.000, die in Rheinland-Pfalz die Tafeln aufsuchen, ein Anstieg auf 1,7 Prozent.
???: Was wünschen Sie den Tafeln in Rheinland-Pfalz für die Zukunft?
Altmeyer-Baumann: Der Landesverband ist in diesem Jahr zehn Jahre alt geworden und die Tafeln sind in dieser Zeit zu einem guten Netzwerk zusammengewachsen. Ich wünsche mir, dass wir es auch weiterhin mit so zuversichtlichen und engagierten Teamplayern zu tun haben und dass die Zahl derer, die sich einbringen, noch weiter steigt. Meine Vision ist es, dass trotz der Zahlen, die vorerst nicht zurückgehen werden, die Tafeln sich weiter mit viel Herzblut und vielfältigen Angeboten dafür einsetzen, Menschen aufzurichten und ihnen den Rücken zu stärken.
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