OB Marc Weigel besucht Mukatschewo in der Ukraine
Neustadt / Mukatschewo. Obwohl seit 16 Monaten der Krieg in der Ukraine tobt, ist er für viele Menschen in Deutschland weit weg. Dabei hat er auch auf Neustadt Auswirkungen, denn über 600 Vertriebene leben in der Stadt, darunter 160 schulpflichtige Kinder. Eine große Aufgabe auch für Neustadt.
Aufgrund der jahrzehntelangen Beziehungen des Arbeitskreises Ukraine-Pfalz und dadurch auch der Protestantischen Kirchengemeinde Lachen-Speyerdorf (Mitglied dieses Arbeitskreises) in die Region Transkarpatien hatte der Neustadter Stadtrat beschlossen, eine Solidaritätspartnerschaft mit der Stadt Mukatschewo aufzunehmen. Auf Einladung der dortigen Stadtverwaltung besuchte Oberbürgermeister Marc Weigel nun drei Tage lang die Stadt. Aufgrund der Sperrung des Luftraums mussten weitere zwei Tage für die Hin- und Rückfahrt eingeplant werden.
Gleich zu Beginn sprach Weigel im Stadtrat, der, neben der Partnerschaft mit Neustadt, vor allem kriegsrelevante Themen abzustimmen hatte, darunter die Kostenübernahme für das Ehrenbegräbnis eines getöteten Soldaten, denn bereits mehr als 70 Bürger Mukatschewos wurden seit Kriegsbeginn in Kämpfen an der ostukrainischen Front getötet. Außerdem ging es um die Finanzierung eines Traumazentrums und die Übereignung von Immobilien und Fahrzeugen an die ukrainischen Streitkräfte. Weigel überbrachte – teils in ukrainischer Sprache – die Grüße des Neustadter Stadtrates. „Unsere Solidarität und unseren Respekt für Ihre Tapferkeit und Ihren unbeugsamen Willen. Sie verteidigen hier nicht nur ihr Land, sondern auch die Freiheit Europas“, rief der OB den am Ende sichtlich berührten Stadträten zu. „Neustadt hat eine bedeutende Demokratiegeschichte, unser Hambacher Schloss ist ein deutsches Freiheitsdenkmal, aber auch europäisches Kulturerbe der Demokratie. Vielleicht fühlen wir uns Ihnen deshalb besonders verbunden“.
Weigels Amtskollege Andrij Baloha sah einen „guten Start für die partnerschaftlichen Beziehungen.“ „Wir erwarten nichts von Ihnen. Wir wünschen uns Freundschaft, weil wir unsere Zukunft im Westen und uns mit Ihren Werten verbunden sehen.“ In Mukatschewo stehe noch viel an, wenngleich der Krieg viele Projekte verhindert habe und man nun ganz andere Aufgaben habe.
„Viele Firmen schließen oder haben geschlossen, viele Menschen fliehen in den Westen Europas, wir müssen aber auch weiterhin Tausende Binnenflüchtlinge in Mukatschewo aufnehmen“, erklärte Baloha. Die Region sei glücklicherweise sicherer als andere Teile der Ukraine, die Auswirkungen des Krieges spüre man aber auch hier: „Wir haben uns aber schon daran gewöhnt; wir sind gefühlskälter, härter, zynischer geworden. Die Nation wieder auf zu bauen, wird Jahrzehnte dauern“, so Baloha.
Oberbürgermeister Weigel betonte, dass konkrete und praktische Projekte angegangen und die vorhandenen Strukturen der kirchlichen Netzwerke genutzt werden sollen. Besonders im kulturellen Bereich wolle man zusammenarbeiten, angedacht sind eine Jugendbegegnung zum Fest der Demokratie 2024 sowie ein Schüleraustausch. Im Dezember wolle man einen Chor nach Neustadt einladen, außerdem ist eine Ausstellung geplant. Daneben unterstützt die Stadt weiterhin humanitäre Hilfstransporte. Bereits 13 Transporte wurden seit Kriegsbeginn aus Lachen-Speyerdorf in die Ukraine geschickt, die meisten gingen nach Mukatschewo. „Seit vielen Jahrzehnten kennen und unterstützen sich Menschen aus Neustadt an der Weinstraße und Mukatschewo“, so Weigel. „Durch die Solidaritätspartnerschaft können wir absichern und verstärken, was schon da ist, und neue Ideen voranbringen.“
Durch den jüngsten, gemeinsamen Spendenaufruf der Stadt, des Klosters Neustadt, der Evangelischen Gemeinschaft und der Protestantischen Kirchengemeinde Lachen-Speyerdorf wurde auch wieder eine Zahnarztausrüstung gespendet, von deren Übergabe ans städtische Krankenhaus sich der Oberbürgermeister überzeugen konnte. Direktor Jewhen Meschko bat darum, den Spendern Dank und Grüße zu übermitteln.
Auch Schulmöbel, die in Neustadter Schulen aussortiert wurden, aber noch in akzeptablem Zustand sind, wurden Mukatschewo gespendet. Vom neuen Einsatzort in der Schule Nr. 7 konnte sich Weigel ein Bild machen.
Im Gespräch mit der Schulleitung informierte er sich auch über den Umgang mit Luftangriffsalarmen, da diese wiederholt zu hören waren. Da nicht jede Schule einen Luftschutzbunker hat, gibt es für Schulen einen festen Plan, der befolgt werden muss. Bei Luftalarm ist der Unterricht zu unterbrechen, die Kinder gehen mit den Lehrern ins Erdgeschoss und stellen sich im Flur so zwischen die Wände, dass sie im Angriffsfall nicht von Glassplittern getroffen werden können. Sandsäcke und eigens eingezogene Schutzwände dienen ebenfalls dem Schutz, zeigen aber auch täglich von Neuem die Situation auf.
Während der Zwangspausen fertigen sie Schutznetze und Kerzen für das Militär, spielen und schauen gelegentlich Trickfilme, um sich abzulenken. Besonders sensibel auf die Luftalarme reagierten die Flüchtlingskinder aus dem Osten der Ukraine. Sie hätten meist Schlimmes erlebt. Jeder Luftalarm bedeute Stress für Schüler und Lehrer. Die psychologische Betreuung sei ein großes Problem.
Weigel besuchte außerdem den mit rund 3000 Beschäftigten größten Arbeitgeber Mukatschewos, den Elektronik-Hersteller Flex, die städtische Sportschule, das Kulturzentrum sowie den Verein „Deutsche Jugend in Transkarpatien“, der in der künftigen Zusammenarbeit eine wichtige Rolle übernehmen wird. Vize-Bürgermeisterin Julia Taips, selbst Teil der deutschsprachigen Minderheit, ist gleichzeitig Vorsitzende des Vereins.
Beim Besuch in der Hauptfeuerwache berichtete Feuerwehrkommandant Jewhen Praslov eindrucksvoll, dass Einheiten aus dem ganzen Land zur Entlastung der besonders betroffenen Gebiete immer wieder auch in Frontnähe eingesetzt werden. So musste Mukatschewos Feuerwehr wenige Tage zuvor in Kupiansk in der Oblast Charkiv zerstörerische Raketenangriffe auf Wohnhäuser bewältigen.
Von ihren Kriegserfahrungen berichteten auch mehrere Flüchtlingsfamilien, die in einem Flüchtlingsheim auf einem ehemaligen Fabrikgelände auf engstem Raum untergebracht sind. Seit Kriegsbeginn fanden hier über 1.000 Menschen Unterschlupf. Olena, die mit ihren Töchtern Angelina und Sofia in dem Gelände Unterschlupf fand, kommt aus Enerhodar, dort liegt das von der russischen Armee besetzte Atomkraftwerk Saporischschja. Ihr Mann kämpft in der Landesverteidigung, sie ist mit ihren Kindern geflohen. Sechs Monate lebte sie im besetzten Gebiet, bevor sie es auf ukrainisches Territorium schaffte. „Im Nachbarhaus schlug eine Rakete ein, da habe ich die Sachen gepackt und wir sind weg. Während der Fahrt wurden wir beschossen, haben es aber geschafft.“ Seit vier Monaten ist sie in Transkarpatien. „Sofia hat endlich keine Angst mehr“, freut sich Olena. Bisher nimmt Angelina online am Schulunterricht teil, sie hofft aber, dass sie bald normal die Schule besuchen kann.
Auch Ruslana lebt mit ihren Söhnen Vadim und Maxim dort. Ruslana stammt aus der Oblast Donezk, seit April 2022 lebt sie hier mit ihren Jungs auf knapp fünfzehn Quadratmetern. Zwar seien schon 2014 Soldaten durch ihr Dorf gezogen, da habe sie sich aber noch sicher gefühlt.
Dies habe sich im Februar 2022 geändert, „da spürten wir, dass es abwärtsgeht. Ich habe dann verstanden, dass wir gehen müssen.“ So verließ sie mit den Kindern das Haus und floh in den Westen; ihr Mann kämpft im Osten für die ukrainische Armee. Ihr Dorf sei mittlerweile komplett zerstört, „es ist wie die Apokalypse, auch die Nachbardörfer sind weg.“ Niemand wisse, wie es dort weitergeht, die russische Propaganda habe viele Menschen bereits stark beeinflusst.
Darum versucht sie nun, für ihre Kinder da zu sein und näht Taschen in dem Fabrikgebäude des Flüchtlingsheims, da die Firma, die Kabelbäume für Autos und Teile für Standheizungen produzierte, den Standort wegen des Kriegs aufgab. Zwar verdiene man nicht viel, könne aber die Zeit irgendwie nutzen. „Wir sind sehr froh über den Besuch aus Deutschland. Das zeigt uns, dass wir nicht so allein sind und unser Schicksal auch andere interessiert.“ Nach Deutschland oder überhaupt in die EU will sie nicht weiterziehen. „Ich hatte Angst vor der Flucht. Nach Transkarpatien zu gehen war schon schwer genug. Die Ukraine ist unsere Heimat. Wir wollen dafür sorgen, dass unser Land in Freiheit bleibt“, erklärt Ruslana mit einem nachdenklichen Lächeln, während Vadim wieder nach seiner Mama ruft.
Spendenauffruf: Spendenkonto: Stadtkasse Neustadt, IBAN: DE 58 5465 1240 0000 0015 03, Sparkasse Rhein-Haardt, Verwendungszweck: Ukraine-Hilfe.Spendenquittungen sind möglich, wenn bei der Überweisung der Name und die Anschrift sowie der Verwendungszweck angegeben werden. Bis 300 Euro gilt auch der Einzahlungsbeleg als Spendenquittung. cd/red
Autor:Christiane Diehl aus Neustadt/Weinstraße |
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