Der Weg
Ein Spaziergang voller Erinnerungen zum Ende des Jahres
Von Stephanie Walter
„Der Weg ist das Ziel“ - dieser Satz nagt an ihm, wie die Kälte, die langsam unter seine Kleidung zieht. Obwohl er anfängt zu frieren, lässt die Anstrengung seinen Atem schneller gehen und in kleinen Wolken in die winterliche Luft entweichen. Er muss daran denken, dass es schon seit Jahren nicht mehr so kalt war an diesem Tag. Die Äste, Gräser und Steine sind mit kleinen Eiskristallen besetzt und funkeln noch leicht im Licht des Nachmittags. Manche von ihnen erinnern ihn an Dornen oder Nadeln. Vorsichtig setzt er einen Fuß vor den anderen, während er seinen Blick schweifen lässt, denn der schmale Waldweg ist rutschig und steil. Eigentlich nimmt er sich nur selten die Zeit für einen Spaziergang, aber an diesem einen Tag im Jahr geht er immer den gleichen Weg. Früher hat ihn sein Vater zu der Aussichtsstelle begleitet, heute jedoch steigt er alleine nach oben. Eigentlich weiß er gar nicht so richtig, warum er diese Tradition noch immer aufrecht erhält. Anfänglich hatte er die kleine Wanderung in Erinnerung an seinen Vater unternommen, später war er dankbar für die Ruhe, die ihm die frische Luft und der Ausblick schenkten, bevor die Gäste am Abend eintrafen. Aber heute? Zu viele Gedanken wirbeln durch seinen Kopf, selbst dann noch, als er oben angekommen ist und tief durchatmet, während er das bekannte Panorama betrachtet, das sich vor ihm ausbreitet. Die Stadt unter ihm ist ihm so vertraut. Hier hat er sein ganzes Leben verbracht. Dort kann er die Schule erkennen, in die er früher gegangen ist. Hinter dem Wald liegt die Stadt, in der er seit Ende seiner Ausbildung gearbeitet hat. Wenn er sich anstrengt, kann er sogar sein Haus erkennen. Soll das etwa schon alles gewesen sein, sein Leben hier? Viele seiner Freunde sind im Laufe der Jahre weg gezogen, verreist oder sogar ausgewandert, aber er ist geblieben. Hier an diesem Ort, an dem er jede Stelle kennt, an dem ihn jeder in seiner Straße am Morgen grüßt. „Aber ist es nicht genau das, was das Wort Heimat ausmacht?“, denkt er bei sich, während er beobachtet, wie sich immer mehr der Fenster unter ihm beleuchten. Hinter vielen dieser Fenster bereiten sich gerade Familien auf das Fest vor. Sie werden den Abend gemeinsam verbringen, singen und lachen. Hinter anderen sitzen Menschen, die selbst an den Feiertagen alleine bleiben. Genau in diesem Moment durchströmt ihn plötzlich ein Gefühl von tiefer Dankbarkeit. Gerade mag er alleine sein und als stummer Betrachter von oben auf die Stadt blicken, aber hinter einem dieser Fenster wartet seinen Familie auf ihn, um mit ihm zusammen das Weihnachtsfest zu feiern. Zum ersten Mal seit Langem weiß er wieder, warum er sich jedes Jahr am Weihnachtsabend auf den Weg macht. Er holt noch einmal tief Luft und während es langsam anfängt zu schneien, weiß er eine Sache mit Sicherheit: Im nächsten Jahr wird er seine Tochter mit zu diesem Ort nehmen und ihr die Schönheit seiner Heimat zeigen. sw
Autor:Stephanie Walter aus Wochenblatt Kaiserslautern |
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