Mädchen mit Hutschachtel: Dokumentationstheaterstück zu Gast an der IGS Rockenhausen
Rockenhausen. Seit Wochen gehen tausende Menschen quer durch Deutschland auf die Straße und setzen ein Zeichen gegen Rechtsextremismus und für eine offene und pluralistische Gesellschaft. Dabei vereint alle Demonstrierenden ein Gespür dafür, dass die Werte, die unsere Gesellschaft bisher ausgemacht haben, ins Wanken geraten.
Moralische Empörung gegen menschen- und demokratiefeindliche Parteien und Gruppierungen alleine reicht aber nicht aus, um die in den Köpfen der Menschen verankerten (Vor-)Urteile, Stereotype und Verschwörungstheorien aufzulösen. Es bedarf der Grundlagenarbeit, der Aufklärung mit Fakten. Sonst bleibt alles, was an Schulen über die Verbrechen der Nationalsozialisten gelehrt wird, im Abstrakten. Ein gewiss sinnvoller Ansatzpunkt dies verändern zu können, ist der Weg über personalisierte Geschichte. Alle, die beispielsweise das Privileg hatten, in Amsterdam das Anne-Frank-Haus zu besuchen, konnten anhand eines Einzelschicksals das Grauen für Millionen Unterdrückte und Ermordete durch das Nazi-Regime besser nachvollziehen.
Das Dokumentationstheaterstück „Mädchen mit Hutschachtel“, das am vergangenen Dienstag für die Schülerinnen und Schüler der IGS Rockenhausen in der Donnersberghalle aufgeführt wurde, versucht diesen Weg zu gehen und greift die Geschichte der jungen Edith Leuchter, einer der letzten lebenden Zeitzeuginnen des Holocausts, auf.
Zum historischen Kontext: In den frühen Morgenstunden des 22. Oktober 1940, als ob die bereits offenkundig ideologisch aggressive Haltung geheim gehalten werden müsste, werden in Baden, der Pfalz und im Saarland nahezu alle Jüdinnen und Juden verhaftet, zu den Bahnhöfen getrieben und in das Internierungslager Gurs deportiert. Dies macht Gurs bis heute zu einem besonderen Erinnerungsort unserer regionalen Geschichte. Als das unter allen französischen Internierungslagern am längsten bestehende ist Gurs überdies symptomatisch für die oft reibungslos funktionierende Kollaboration des französischen Vichy-Regimes mit dem nationalsozialistischen Deutschland. Vor Verlassen der Wohnung, so die Dienstanweisung an Polizei und Gestapo, waren Strom, Gas und Wasser abzustellen und Lebensmittel, aber auch Haustiere auszuhändigen. Manchen lähmten Angst, Verzweiflung, das angetane Unrecht und eine dunkle Ahnung oder trieben ihn gar zum Extremsten: Allein in Mannheim registrierte die Staatsanwaltschaft zehn Selbsttötungen bzw. Suizidversuche.
Die Massendeportation, die an diesem Herbsttag im Oktober auch im badischen Bruchsal stattfand, wurde in einem noch heute erhaltenen NS-Propagandafilm mit dem Titel „Bruchsal judenfrei! Die letzten Juden verlassen Bruchsal“ festgehalten. Darin ist unter vielen Menschen ein Mädchen mit einem Koffer zu sehen, der wie eine Hutschachtel aussieht. Die Autorin Lisa Sommerfeldt und die Dramaturgin und Regisseurin Petra Jenni begaben sich auf Spurensuche, um herauszufinden, wer dieses Mädchen war und fanden sie schließlich in den USA: Edith Leuchter (geborene Löb) ist heute 94 Jahre alt, in dem Film war sie 13 Jahre alt. Sie wurde aus dem Lager befreit, musste aber unter falschem Namen in einem fremden Land heimlich untertauchen. Nach dem Krieg wanderte sie nach New York aus. Ihre Mutter und ihr kleiner Bruder Heinz wurden aber in Auschwitz ermordet.
Auf der Grundlage von Briefen, Interviews, Gerichtsakten und anderen Zeitdokumenten hat Lisa Sommerfeldt für die Badische Landesbühne schließlich das Theaterstück geschrieben und macht anhand von Edtih, gespielt von Hannah Ostermeier, das verbrecherischste Kapitel deutscher Geschichte für „Nachgeborene“ spürbar.
In Zeiten, in denen immer mehr „Nachgeborene“ sich gerne von den durch die Erfahrung des Nationalsozialismus gemachten demokratischen und humanistischen Werten trennen und gegen eine politische Kultur eintauschen wollen, die hinter scheinbar wohlklingenden Wortneuschöpfungen (Stichwort „Remigration“) eine ausgrenzende Politik verfolgt, in diesen Zeiten ist es wichtig mit Fakten Flagge zu zeigen.
Ähnlich sieht es auch der Bürgermeister der Verbandsgemeinde Nordpfälzer Land, Michael Cullmann, der an die Schülerinnen und Schüler appellierte und an ihre Verantwortung erinnerte, demokratiezersetzenden Strömungen die Stirn zu bieten.
Die IGS Rockenhausen bedankt sich herzlich beim Bezirksverband Pfalz und der VG Nordpfälzer Land, die für alle Kosten der Aufführung aufgekommen sind und wünscht dem Ensemble rund um Lisa Sommerfeldt alles Gute!red
Autor:Karin Hoffmann aus Ludwigshafen |
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